Humboldt-Universität zu Berlin - Institut für Sozialwissenschaften
Projektseminar „Politische Rationalitätsprobleme und Bedingungen der Möglichkeit anspruchsvoller Reformen I“ SoSe 2002

Sitzungsprotokoll vom 10.06.2002
Gesprächsleitung: Burak Güleryüz
Protokollant: Oldag Caspar, mit Ergänzungen von Helmut Wiesenthal

Themen: Unregierbarkeit; Pfadabhängigkeit

Tagesordnung
1. Besprechung des Protokolls vom 03.06.02 (Julia Czaya)
2. Referat I „Unregierbarkeit“ (Ina Gorzolka), Diskussion
Pause
3. Referat II „Pfadabhängigkeit“ (Jan Rose, Holger Döring), Diskussion
4. Einordnen der Ergebnisse
5. Planung und Verschiedenes
 

1. Besprechung des Protokolls vom 03.06.02

Zwei Punkte wurden ergänzt/abgeändert:
(a) Zu 3. & 4: Man nicht ohne weiteres annehmen, dass die Kontextsteuerung (Willke) den Unorganisierten zu einer besseren Vertretung ihrer Interessen hilft. Dazu müssten die je besonderen Probleme und Randbedingungen spezifiziert werden.
(b) Zu 5.: Die Ergänzung der Rationalitätsmatrix wurde wie folgt vorgenommen: durch eine Extrazeile „Gesellschaftstheoretische Aspekte“ mit dem Inhalt „Die soziologische Systemtheorie (N. Luhmann) bestreitet prinzipiell die Möglichkeit politischer Interventionen mit zuverlässigen intendierten Wirkungen. "Kontextsteuerung" (H. Willke) ist als eine Form kontingenter, nicht unbedingt wirkungssicherer Intervention zu verstehen. Für ihre theoretische Rekonstruktion scheint ein Wechsel von der zweiwertigen (wahr/unwahr) Logik zu einer "mehrwertigen" Logik (wahr/unwahr/möglich) sinnvoll. Dem korrespondiert auch der Begriff "fuzzy logic".
 

2. Referat I „Unregierbarkeit“: Ergänzungen und Diskussion

Skepsis gegenüber der Regierbarkeit moderner Gesellschaften als Gegenreaktion auf die Politikvorstellung der 70er Jahre (ganzheitliche Steuerung).

Friedrich Tenbrucks Prämisse: Staatliches Handeln setzt nicht punktuell an, sondern ist tendenziell immer komplexes Reformieren, welches geplant werden muss.

Fazit von Tenbrucks Überlegungen: Die Politik sieht sich selbst unter Handlungsdruck, sieht aber auch, dass sie dem nicht genügen kann. Das ist das Dilemma rationaler Politikplanung.

Ein Masterplan ist in einer differenzierten Gesellschaft nicht möglich, denn auf immer spezifischere Probleme müssen  immer differenziertere Antworten gesucht werden. Dennoch ist der Masterplan nötig; neue Pläne kompensieren oft nur die Folgen alter Pläne.

Idee der Kompensierung von Regierungsversagen durch extrarationale Ressourcen (z.B. familiäre, traditionale Werte, andere Normen): Wertekonsens schützt vor Staatsversagen, Überkomplexität und Unsteuerbarkeit. Aber sind eher traditionale, vormoderne Gesellschaften im steuerungspolitischen Vorteil? In modernen Gesellschaften existieren durch die Möglichkeit rationalen Debattierens von Experten und Wissenschaftlern immerhin weiter gefasste Problemlösungsressourcen! Einwand: Durch die Beteiligung von Wissenschaft zur Problemerkennung und -Lösung ist keine Erleichterung eingetreten. Problemlösung wird nur auf eine andere Ebene verlagert, wenn Wissenschaftler rational argumentieren (von wertorientiertem Diskurs zu rational geführtem Diskurs). Gegeneinwand: Nebenfolgen staatlichen Handelns können durch rationalen Diskurs eher erkannt und behandelt werden.
Die (rational geführte) Diskussion über diesen Punkt bleibt offen.

Förderung von extrarationalen Ressourcen in einer Gesellschaft ist die Idee US-amerikanischer Kommunitaristen, schlecht funktionierende politische Institutionen durch traditionale Werte zu ersetzen. Dieses Konzept war von vornherein auf die USA orientiert, da in Europa solche Werte noch stärker vermutet wurden.
 

3. Referat II „Pfadabhängigkeit“: Ergänzungen und Diskussion

Konzept der Pfadabhängigkeit seit ca. 30 Jahren auch in den Sozialwissenschaften präsent. Wird allerdings oft in verballhornter Form gebraucht.

Was ist Pfadabhängigkeit? Das Fortbestehen von Institutionen oder Technologien, obwohl „effizientere“ möglich zu sein scheinen. Also nicht einfach der Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart.

Pfadkontinuität entsteht v.a. durch rationale kostenorientierte Entscheidungen, nicht nur aufgrund struktureller und kultureller Ursachen. Das Verharren in nichteffizienten Institutionen wird v.a. kulturalistisch erklärt. Aber auch ökonomisch: z.B. anhand von wachsenden Gewinnen (increasing returns); nicht notwendig von: wachsenden Grenzerträgen (economies of scale).

Durch Pfadabhängigkeit entstehen keine „falschen Lösungen“, sondern es regieren relativ schlechtere als im Falle des Wechsels zu der je „besten“ Alternative! Das Schlechtere kann sich also in der ideellen Konkurrenz zum Besseren halten.

Unklar allerdings, ob sich durch Pfadabhängigkeit immer die ineffizientere Variante durchsetzt. Diskussion über die Optimalität eines Zustandes ist immer der Vergleich von etwas Realem mit etwas Irrealem!

Wie können Abweichungen vom Pfad entstehen ?
1. Durch Verlust der Komplementarität.
2. Durch ein Ende der „increasing returns“.
3. Durch die Wahrnehmung gesunkener Übergangskosten.
4. Bei sinkender Wahrnehmbarkeit des Pfades bzw. divergierenden Interpretationen der (Pfad-) Tradition.
5. Durch die Entdeckung alternativer Traditionen (z.B. einer 3. Möglichkeit) in der Vergangenheit, d.h. Auswahl unter konkurrierenden Pfaden.
6. Über variable Reformtoleranz/Risikoneigung.
7. Über die Ausstattung eines Pfadwechsels mit gewissen Pfadkontinuitäten (Erzeugung einer symbolischen Pfadkontinuität). Auch über die Beibehaltung einer Pfadabhängigkeit, um eine andere abzuschaffen.
8. Durch gut identifizierbare Transformationskosten, die dann leichter kompensierbar sind.
 
 

9. Einordnen der Ergebnisse

Neun-Felder-Matrix: Die argumentativen Grundstrukturen von Unregierbarkeit und Pfadabhängigkeit haben wir bereits aufgenommen.

„Es existieren systematische Grenzen rationaler Planbarkeit“ wird bei sachlich/makro eingeordnet.
„Die Institutionenentwicklung ist i.d.R. pfadabhängig“ wird bei zeitlich/makro eingeordnet.
 

10. Planung und Verschiedenes

Aufgabe für nächste Sitzung:
Methode finden, wie wir geeignete Testfälle suchen.

Brainstorming für mögliche Testfälle:
EU-Entstehung? Letzte Rentenreform? Rentenreform von 1972? Euro? Margret Thatchers Reformen? Great Deal?

Wichtige noch zu klärende Fragen:
Länderstudien einbeziehen? Sollen Reformen abgeschlossen sein? Sollen gar messbare Reformwirkungen vorliegen?
 


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rev. 30.04.2002
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