Protokoll zur Seminarsitzung vom 03.06.2002

Protokoll: Julia Czaya
Thema: Luhmann & Willke

Tagesordnungspunkte:
1. Abstimmung der Tagesordnung
2. Quintessenz und Fragen zum Protokoll vom 27.05.2002
3. Referate:
a) Sebastian Wolfrum zu Luhmann (Polit. Theorie im Wohlfahrtsstaat)
b) Felix Wassermann (Ironie des Staates)
4. Diskussion und Systematisierung
5. Revision bzw. Ergänzung der Matrix der Rationalitätszweifel
6. Arbeitsplan und Verschiedenes
 

zu 1.: Tagesordnung
- angenommen und keine Veränderungen
 

zu 2.: zum Protokoll vom 27.05.2002
- Präzisierung zu TOP 3: Individuen behalten Wahlmöglichkeiten gegenüber der Umwelt und seinen Präferenzen, sind jedoch auch gleichzeitig in die Umwelt sozial eingebettet („social embeddedness“); Umweltabhängigkeit und Wahlfreiheit verhalten sich komplementär zueinander und nicht strikt gegensätzlich.
- zu TOP 5: „Governance“ anstelle von „government“, da ersteres den Prozeß der (Selbst-)Steuerung adäquat wiedergibt.
 

zu 3.& 4.: Referate, Diskussion bzw. Systematisierung
- Nach Luhmann ist in der funktional differenzierten Gesellschaft keine zentrale (hierarchische) Steuerung seitens der Politik möglich.
- Luhmanns Radikalität, nach der das Selbstverständnis von Politik aus einer Selbsttäuschung besteht und keine Steuerung möglich ist, muß mangels konkurrierender Theorien angenommen werden.
- Steuerung ist aus folgenden Gründen nicht möglich: Selbstreferentialität, Autopoiesis, Eigenlogik, Eigenrationalität, Eigensteuerung der Subsysteme; dies führt zu nicht intendierten Konsequenzen bei Interventionsversuchen

- Willke versucht, innerhalb der Luhmannschen systemtheoretischen Begrifflichkeit Steuerungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
- Hierzu prägt er den Begriff der „Kontextsteuerung“, welche in Verhandlungs-   systemen vollzogen wird: In Verhandlungssystemen kommen Akteure aus den unterschiedlichsten Subsystemen zusammen, um gemeinsam Probleme zu lösen        (vgl. Scharpf).
- Willkes Vorstellung von einem Verhandlungssystem, bei dem Akteure an einem „runden Tisch“ sitzen, ließ die Frage aufkommen, daß nicht alle Gesellschaftsmitglieder organisiert sind und demnach nicht am Tisch sitzen können; doch die Kontextsteuerung gibt Instrumente an die Hand, die den „Unorganisierten“ die Möglichkeiten zur offiziellen Vertretung bieten
- bei Kollektivgütern ist eine Kontextsteuerung schwer zu realisieren und eine Machtposition von einem Akteur (z. B. Staat) kristallisiert sich womöglich heraus, obwohl in der gegenwärtigen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft nach Willke kein System eine herausragende Position einnimmt (Gegenteil: zentrale Steuerung)
- Verhandlungssysteme sollen endogene Störungen abfangen (Gleichgewichtsannahme), indem sie bei Krisenanzeichen ihr Kollektivgut identifizieren und damit die Störung beheben; langfristige tritt zugunsten von kurzfristiger Rationalität bei Krisen in den Vordergrund.

- Haupteinwand gegen Willkes Idee: es gibt keine „Gesamtsystemrationalität“, da es keinen übergreifenden Systemdiskurs gibt.
- Weiterer Einwand: Willkes Steuerungsbegriff bezeichnet eine ex post - Steuerung - - Daher folgender Vorschlag zu einer begrifflichen Unterscheidung zweier Steuerungskonzepte:
a) Steuerung beinhaltet einen „harten“ Aspekt (wie Luhmann ihn benutzt), der sich seiner Wirkung sicher ist und einen teleologischen Charakter aufweist
b) Steuerung hat eine weiche Komponente (Willkes und Scharpfs Terminologie), die auf den Prozess der Verständigung anstatt auf das Ergebnis abzielt.

- Systemtheorie hat keinen handlungstheoretischen Fokus, doch ließe sich eine Verbindung zu der Mikroebene durch die mehrwertige Logik (oder: „fuzzy logic“) ziehen, die im Gegensatz zu zweiwertigen Logik neben den Kategorien „wahr/falsch“ noch eine „möglich“-Kategorie aufweist, so daß die Akteure nicht zwangsläufig scheitern müssen, sondern es zwischen den beiden Extremausprägungen Raum für (Miß-)Erfolg gibt.
- Bezogen auf die Thematik des PJ bedeutet dies, daß Reformen mit einer mehrwertigen Logik möglich sind.
- außerdem ist nach den drei Kriterien der Theoriebeurteilung (a. Universalität der Aussagen, b. empirische Präzision, c. einfache Termini; Luhmann läßt sich zwischen a. & c. wiederfinden) keine Übersetzbarkeit seiner Theorie in eine Handlungstheorie möglich (bis dato gibt es keine Theorie, die alle drei Kriterien simultan erfüllt).

- Luhmann ist die maßgebliche Autorität, die Zweifel an rationalen Reformvorhaben in komplexen Gesellschaften begründet (in der Politik findet sich heute eine bewußte Zurücknahme des Anspruchs anspruchsvoller Reformen); dieses jedoch nur insoweit gültig ist, solange man von der traditionellen zweiwertigen Logik ausgeht und nicht von einer fuzzy logic, die ein mehr oder weniger erfolgreiches Gelingen akzeptiert.      - In der Wissenschaft gibt es keine positive Theorie der Durchführung von anspruchsvollen Reformprojekten, aber eine Möglichkeit kann nicht ausgeschlossen werden (wie auf Luhmann-Handout unter 7. verdeutlicht).
 

zu 5.: Revision bzw. Ergänzung der Matrix der Rationalitätszweifel
-In der Matrix der Rationalitätszweifel könnte man ein neues Feld „gesellschaftlich“ neben den Ebenen zeitlich, sachlich und sozial öffnen, in der sich systemtheoretische Aspekte eingliedern lassen.

Ergänzung durch H. Wiesenthal:
Dieses Feld könnte mit "Gesellschaftstheoretische Aspekte" betitelt sein und Folgendes als Inhalt haben: "Die soziologische Systemtheorie (N. Luhmann) bestreitet prinzipiell die Möglichkeit politischer Interventionen mit zuverlässigen intendierten Wirkungen.
"Kontextsteuerung" (H. Willke) ist als eine Form kontingenter, nicht unbedingt wirkungssicherer Intervention zu verstehen. Für ihre theoretische Rekonstruktion scheint ein Wechsel von der zweiwertigen (wahr/unwahr) Logik zu einer "mehrwertigen" Logik (wahr/unwahr/möglich) sinnvoll. Dem korrespondiert auch der Begriff "fuzzy logic"."
zu 6.: Arbeitsplan & Verschiedenes

Sitzung am 10.06.:
Thema I „Unregierbarkeit“ (Einleitung von Hennis et al.)

Thema II „Pfadabhängigkeit“ (Text im Handapparat von David und von Pierson)

Sitzung am 17.06.:
an alle: Fallbeispiele/Testfälle sammeln und überlegen ob für PJ relevant
(Hinweis: nur Testfälle aus demokratischen Ländern anschauen)
 


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rev. 30.04.2002
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