Constraint-Soziologie als Risiko
Zur begrenzten Diagnosefähigkeit der Sozialwissenschaften
für Globalisierungsfolgen und  -optionen
(Überarbeitete Fassung des Beitrags zur ZiF-Tagung „Demokratie und Arbeitsmarkt im Prozeß der Globalisierung“, 2.-5. Juli 1998 am ZiF, Universität Bielefeld)
von
Helmut Wiesenthal
Oktober 1998
 
 
 

1.
In modernen Gesellschaften finden institutionelle Veränderungen weder spontan noch „hinter dem Rücken“ der Akteure statt. Sie mögen zwar das ungeplante und womöglich ungewollte Ergebnis sozialer Prozesse sein, doch bleiben sie stets Hervorbringungen des Handelns konkreter Akteure, d.h. von Parteien, Interessengruppen, Regierungen, Verwaltungen oder Unternehmen. Diese Akteure handeln bekannt nur selten „ins Blaue“ hinein, sondern orientieren sich i.d.R. an für wünschenswert und erreichbar gehaltenen Konsequenzen, deren Evidenz interpretierenden Wahrnehmungen der Wirklichkeit entstammt. Ihre Wahrnehmungen mögen mangelhaft, von Wunschdenken oder Einseitigkeiten geprägt sein, und die darauf gegründeten Absichten zu Mißerfolgen oder unvorteilhaften Kompromissen nötigen, das Handeln bleibt dennoch unaufhebbar an diesen einzigen Zugang zur Wirklichkeit gebunden: das Bemühen um ein ordnendes Verstehen der Welt im Medium bewährter Begriffe.

Institutionelle Innovationen, wie sie von Zeit zu Zeit notwendig werden, um den gesellschaftlichen Verkehr veränderten Bedingungen anzupassen, folgen nicht den avanciertesten Deutungen der Wirklichkeit. Sie sind stes ein Werk der Gestrigen, weil sie sich als anschlußfähig zu erweisen haben für die Akteure, Sachverhalte und Interessen, die den früheren Zustand, nicht aber das Neue und Kommende kennzeichnen. Dennoch bleibt institutionelle Innovation an vorausgehende begriffliche Innovationen gebunden, in denen „neue“ Sachverhalte Merkmale und Bedeutung zugeteilt bekommen. Um diesen Zusammenhang von begrifflicher und institutioneller Konstruktion von Wirklichkeit geht es im folgenden. Die Bezugnahme auf Aspekte des Phänomenkomplexes Globalisierung zielt jedoch weniger auf eine Bereicherung der vorliegenden Prognosen als vielmehr auf eine Art Optionenklärung im Raum des Kontrafaktischen. Unterstellt, daß komplexe soziale Wandlungsprozesse wie jene, die pauschal als Globalisierung tituliert werden, mit verschiedenartigen Optionen der einflußnehmenden Gestaltung assoziiert sind, geht es um den Einfluß der Diagnosemethode auf das Spektrum der in Frage kommenden Therapien.

Im einzelnen geht es um zwei Fragen. Zum einen wird behauptet und zu plausibilisieren versucht, daß das soziologische Denken eine Fehlschätzung von Wandlungsfolgen begünstigt und darum bei der Entdeckung von unorthodoxen („neuen“) Handlungsalternativen von zweifelhaftem Wert ist. Zum zweiten wird gegenstandsbezogen argumentiert, daß die ökonomische Globalisierung nicht notwendig mit unkompensierbaren negativen Verteilungswirkungen assoziiert ist, sondern auch Aussicht auf eine pareto-optimale Nutzenallokation im Wege institutioneller Innovationen besteht. Weil die Überlegungen zur zweiten Frage in erster Linie der Plausibilisierung der soziologiekritischen These dienen, wird auf eine detaillierte Beschäftigung mit dem Thema Globalisierung verzichtet.  Es seien jedoch zwei den Gegenstand Globalisierung betreffende Annahmen vorangestellt. Es wird angenommen, daß der Symptomkomplex Globalisierung eine Art Epochenbruch, d.h. einen zwar sukzessiven, aber im wesentlichen irreversiblen Wandel der sozio-ökonomischen Handlungsbedingungen zur Folge hat (Wiesenthal 1998). Des weiteren ist unterstellt, daß konkrete soziale Folgen der Globalisierung nicht von einer undifferenzierten und ubiquitären Globalökonomie determiniert, sondern von der Gestalt „lokaler“ Institutionen abhängig sein werden.

2.
Warum scheint das systematische soziologische Denken von nur beschränktem Erkenntnisnutzen gegenüber den Folgen forcierten sozialen Wandels? Die Mängelbehaftetheit der sozialwissenschaftlichen und insbesondere soziologischen Begriffe ist ein Dauerthema der forschungsbegleitenden Reflexion. Auf das „Veralten sozialwissenschaftlicher Begriffe“ macht u.a. Beck (1994) aufmerksam. Beck spielt unter der Leithypothese einer zweiten oder „reflexiven Modernisierung“ auf gravierende gesellschaftliche Wandlungen an, denen die tradierten (insbes. die modernisierungstheoretischen) Konzepte nicht auf die Spur kommen könnten. Ihre Ausrichtung auf historisch prominente Gegenstände und Sachverhalte bedinge reduzierte Aufmerksamkeit bzw. ein unzulängliches Auflösevermögen gegenüber unerwarteten Phänomenen. Die „reflexive“ Modernisierung ist nach Beck nicht etwa der Lernprozeß der beobachtenden Wissenschaft angesichts der veränderten Realitäten, sondern der Realprozeß der Gesellschaft selbst: die „nicht-reflektierte, automatische, sozusagen reflexartige und zugleich geschichtsmäßige Modernisierung“, d.h. ein „Strukturbruch“ (Beck 1994: 38). Ergo müssen die „alten“ Begriffe versagen. Über eine besser geeignete „Neubegrifflichkeit“ erfährt man aber leider nichts Genaueres.

Der Zweifel an der Erkenntnisqualität soziologischer Begriffe setzt tief an. Blättert man durch die Beiträge zu dem 1965 von Ernst Topitsch zusammengestellten Reader „Logik der Sozialwissenschaften“ (Topitsch 1971), so kann man sich schwerlich des Eindrucks anhaltender Aktualität entziehen - insbesondere dann nicht, wenn man den aktuellen Streit über Globalisierungsdiagnosen und  therapien als Indiz unsicheren Wissens nimmt, statt ihn als Indikator politischer Vergewisserungsprobleme zu lesen. Topitsch erinnert daran, daß unsere Sprache Teil eines „plurifunktionalen Steuerungssystems“ ist, was heißen soll, „daß mit der Benennung fast jeden Gegenstandes zugleich eine Werttönung und ein Hinweis verbunden ist, wie man sich ihm gegenüber verhält bzw. verhalten soll. Die werthaft-normativen Elemente (...) treten dabei in denselben sprachlichen Formen auf wie die deskriptiven und erwecken so den Eindruck, als wären sie Eigenschaften der Dinge, die von allem menschlichen Dafürhalten unabhängig sind (...)“ (Topitsch 1971a: 18). Wir müßten sogar darauf gefaßt sein, daß Restbestände archaischer Denkformen „bis tief in scheinbar rein wissenschaftstheoretische Fragestellungen hinein wirksam sind“ (Topitsch 1971b: 65).

In Ermangelung von Grenzwerten der normativen Verunreinigung, fällt wissenssoziologischen und professionsethischen Debatten wie dem berühmten „Werturteilsstreit 1909/1959“ (v. Ferber 1971) eine Funktion der Selbstreinigung und Selbsterziehung zu. Als Ergebnis läßt sich konstatieren, daß die Unterscheidung zwischen der - wie auch immer begründeten - Gegenstandswahl und einer nach ausschließlich logischen und theoretischen Normen betriebenen Forschungspraxis die ungeteilte Zustimmung der Professionsgemeinschaft genießt. Der Bedarf an einer „historizistischen Doktrin der Sozialwissenschaften“ (Popper 1971: 115 ) hat sich gegen Null entwickelt, das Wertfreiheitspostulat ist für die i.e.S. wissenschaftliche Praxis weithin akzeptiert, ebenso die Anerkennung der „Notwendigkeit gewisser Basisentscheidungen“ (Albert 1971: 189) etwa der Art, daß Xenophobie aufklärungsbedürftiger als Philosemitismus ist. Auch hat die einst besonders beunruhigende Befürchtung, die Sozialwissenschaften würden sich zum Büttel einer wissenschaftsgläubigen Sozialtechnokratie machen, mangels Nachfrage jede empirische Relevanz verloren.

Doch genau darum geht es: Ist es tatsächlich vermessen, die Sozialwissenschaften als Informator über Entwicklungsoptionen respektive gesellschaftlichen Innovationsbedarf zu betrachten? Die zwischen gedämpfter Euphorie, resignativer Hinnahme und moderater Ablehnung changierenden Positionen im Globalisierungsdiskurs[1]  legen es nahe, auf ein kollektives Inkompetenzbewußtsein zu schließen - wofür sich auch wohl überzeugendere Belege als fürs Gegenteil finden ließen. Gleichwohl wäre eine Aufklärungs- oder sogar Beratungsfunktion der Sozialwissenschaften ausgesprochen angebracht angesichts einer so weitgreifenden Verunsicherung wie sie derzeit gegenüber den Folgen der Globalisierung und den gegebenen Handlungsalternativen bestehen.

Überraschenderweise ist der konzeptuelle Mangel nicht dem normativem Beigepäck eines laxen Wissenschaftsverständnisses der Sozialwissenschaften anzulasten, sondern auf Erkenntnisbeschränkungen zurückzuführen, welche sich gerade beim vorschriftsgemäßen Gebrauch einer strengen Begrifflichkeit einstellen. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei sogleich betont, daß diese Feststellung keine Präferenz für eine bestimmte Art von bias ausdrückt. Zwar scheint es korrekt, den offensichtlichen bias in einem technischen Sinne als „konservativ“ zu diagnostizieren, doch stellt dieses Prädikat weder eine gesellschaftspolitische Klassifikation dar noch ist es als Plädoyer fürs Gegenteil, d.h. eine „progressive“ Schlagseite, zu verstehen (was schon die Unklarheit der Referenzen für Fortschritt verbieten würde).

Hinter dem Konservatismusvorwurf steht keine neue Erkenntnis. Er wurde schon in den 50er und 60er Jahren erhoben und dabei in zwei Richtungen spezifiziert. Zum einen wird den fachtypischen Begriffen und Theorien Konservatismus bescheinigt. Nach den Worten von Dennis Wrong pflegt die Disziplin „theories and research practices expressing an implicit conservative leaning. (...) the conservative bias is professional and is located in the(..) categories and methods.“ (Wrong 1959 nach Mayntz 1971: 526). Zum zweiten werden dem Wirken der Sozialwissenschaften, d.h. ihren gesellschaftlichen Folgen, konservierende Effekte zugeschrieben, deren Vorhandensein Renate Mayntz ausdrücklich bestätigt (Mayntz 1971: 527). Es ist ausschließlich der zweite Vorwurf, dem die Autorin nachgeht, nachdem sie die erkenntnistheoretische Unschuld der Begriffe verteidigt zu haben glaubt. Wenn es denn so sei, wie die Kritiker einer vermeintlich konservativen Soziologie behaupten, daß der dominierende Strukturfunktionalismus (und die vor ihrem erfolgreichen take-off stehende Theorie sozialer Systeme, wie man heute hinzufügen darf) „lieber und häufiger die Seite des friedlich-gerechten Leistungsaustausches beleuchte(n)“, so sei „das rein begriffslogisch nicht zu erklären“ (Mayntz 1971: 529). Es läge allein an den Dispositionen der Theorieanwender, auf deren gesellschaftliche Stellung sodann die Aufmerksamkeit gerichtet wird. Mit anderen Worten, neutrale Begriffe, die über die Reproduktionsbedingungen des Status quo hinausgreifen, sind nach Mayntz ebensogut theoretisch konzipierbar wie „konservative“; ihre geringe Verbreitung ist keinerlei erkenntnishinderlichem Verhältnis von Gegenstand und Theorie zuzuschreiben.

Anregungen aus der Diskussion des Theorieangebots von Niklas Luhmann (z.B. Scharpf 1989; Wagner 1994, 1996; Schmidt 1998) sowie der dank bielefelder Soziologie inflationierte Rechtfertigungsbedarf handlungsanalytischer Forschungen geben Veranlassung, die These der Erkenntnisneutralität theoriefundierter Begriffe erneut aufzugreifen. Es geht dabei um weitaus weniger als um Zweifel an der Qualität der begriffsspendenden Theorien. Gegenstand der Kritik kann allenfalls die unreflektierte Übertragung bzw. Anwendung von sozialwissenschaftlichen Konzepten sein. Was man der Theorie vorwerfen könnte, betrifft lediglich ihren imperialen Habitus, welcher Anbieter und Anwender davon Abstand nehmen läßt, über die Grenzen begrifflicher Sicherheit ebenso unmißverständlich Auskunft zu geben wie über das maximale Leistungspotential. Im Hinblick auf die Theorie sozialer Systeme wird beispielsweise moniert, daß folgenschwere Verwechslungen der Kategorien des gesellschaftlichen Teilsystems (mit einer exklusiven Code-Semantik) und empirischer Organisationen (mit diversen kommunikativen Referenzen) nicht sorgfältiger unterbunden werden.[2]  Analoge Kritik zielt auf die Prominenz von Differenzierungsphänomenen gegenüber symbiotischen und kooperativen Beziehungen.[3]

Die hier vertretene These ist schwächer abgesichert als die angeführten Beispiele und geht über die Kritik an der aktuellen Großtheorie hinaus. Es gilt zu fragen, ob nicht die Erkenntnisposition bereits der klassischen Soziologie und des anschließenden mainstreams eine Voreinstellung gegenüber sozialen Sachverhalten impliziert, welche in der einen Hinsicht, nämlich in Bezug auf die Bedingungen von Gesellschaft überhaupt, also sozialer Integration und Strukturkontinuität, ebenso ertragreich ist wie sie in anderer Hinsicht, nämlich gegenüber dem Nichtredundanten und Singulären versagt. Eine aufschlußreiche Erklärung wird von Renate Mayntz angeboten in ihrem Plädoyer auf dem Hallenser Soziologiekongreß, die Sozialwissenschaften vom Vorwurf mangelnder Prognosefähigkeit freizusprechen (Mayntz 1996). Danach verfügen die Sozialwissenschaften keineswegs über gleich gute Kompetenzen bei der Erkundung kontinuierlich erwartbarer respektive singulärer (und darum unerwarteter) Sachverhalte. Nicht-lineare Verursachungszusammenhänge, statistische Seltenheit oder gar Singularität sowie spontane Koinzidenzen verleihen „komplexen Makrophänomenen“ den Charakter extremer Kontingenz. Sie entziehen sich systematischer Prognostik, „weil wir als Sozialwissenschaftler Makrophänomene wie gesellschaftliche Umbrüche grundsätzlich nicht aufgrund theoretischer Ableitungen vorhersagen können.“ (Mayntz 1996: 142).

Der schwerlich in Frage zu stellende Selbstbeobachtungsbefund könnte allerdings auf ein Gebot hinauslaufen, das es Sozialwissenschaftlern auferlegt, auf Qualitätsunterschiede ihrer Aussagen hinzuweisen und die weniger „sicheren“ Feststellungen besonders zu kennzeichnen. Kernpunkt einer solchen professionsethisch begründeten Offenlegungspflicht von Kompetenzgrenzen wäre die Feststellung, daß (a) ihr Instrumentarium nicht für systematische Aussagen über irreale Sachverhalte gerüstet ist, und deshalb (b) einschlägige Auskünfte lediglich auf Intuition, Lebenserfahrung oder privater Insiderinformation („...wie mir Gerhard Schröder glaubhaft versicherte, ...“) beruhen. Darauf geeicht, Regelmäßigkeiten und Redundanzen als Charakteristika des Allgemeinen, Nichtindividuellen und Nichtarbiträren - alles wissenswerte Bedingung von Sozialität - zu entzifferen, entbehren sie eines Sensoriums für Kontingenz. Das systematisch Unvorhersehbare bleibt halt solange der theoretisch angeleiteten Erkenntnis entzogen, bis es durch seine Realisation für alles Weitere bestimmend wird.

Mikro , meso- und makrotheoretische Ansätze sind von der Erkenntnisschwäche vermutlich in ungleichem Maße betroffen. Wo das phänomenologische Auflösungsvermögen groß ist und ohnehin die Ambition fehlt, von mikrosoziologischen Befunden zu makroskopischen Diagnosen „aufzusteigen“, wie etwa in den Ansätzen des methodologischen Indvidualismus und des Rational Choice, ist noch am ehesten mit Aufgeschlossenheit für kontingentes Anschlußgeschehen zu rechnen. Dafür bleibt der Einzugsbereich von Aussagen über Mögliches und Nichtmögliches eng begrenzt. Extrem gefährdet scheinen Theorien, welche Charakteristika makrosozialer Sachverhalte (Relationen, Strukturen, Systemeigenschaften, Institutionen) mittels Rückgriff auf Kontinuitäten und Redundanzen der mikrosozialen Phänomenwelt „erklären“ nd dabei auf die empirische Signifikanz von sozialen Normen, routinisierten Handlungen und intersubjektiven Orientierungen bauen. Sie scheinen durch exakt diese Erkenntnismittel gehindert, mit gleicher Stringenz die Freiheitsgrade des Handelns, d.h. die Bedingungen von Diskontinuität und des „Auch-anders-Möglichen“, aufzuklären. Der Abstraktionsbedarf „großer“ systematischer Sozialtheorien und das Verlangen der Verbraucher nach überschaubaren Begriffssystemen kollidieren offenbar mit den konzeptuellen Anforderungen einer systematischen Aufklärung des Möglichkeitshorizontes (Wiesenthal 1997). Die Konsequenz ist ein bias zu Ungunsten der „präsumtiven“ Kalkulation sozialer Singularitäten, mikrosozialer Innovationen, deren Varianz und der daraus u.U. resultierenden Diskontinuitäten auf der Meso- und der Makroebene der Gesellschaft (vgl. Wiesenthal 1994).

Zwei Feststellungen sind zu ergänzen. Zum einen sollte klar sein, daß es hier nicht um eine Generalkritik der Sozialwissenschaften geht. Die raum-zeitliche und sachliche Differenziertheit der Phänomenwelt bietet eine uneinholbare Fülle von übertragbaren Befunden. Sozialwissenschaften können sehr wohl mit großer empirischer wie theoretischer Sicherheit über Irreales reden und den Bedingungshorizont auch mancher bloß möglichen Phänomene aufklären. Das gelingt dank komparativer Methoden und impliziter Relevanzkriterien fürs Sortieren in den Variablenhaufen. Zum anderen ist es kein geringer, sondern ein beträchtlicher Erkenntnisgewinn, die Funktionsbedingungen von Sozialität, d.h. die Grundlagen kollektiver Orientierung und sozialer Koordination, spezifizieren zu können. Das wäre ohne die auf Redundanz und Kontinuität bauende Begrifflichkeit nicht zu leisten (vgl. Schimank 1992). Die Mängelrüge ist also zu präzisieren. Tatsächlich darf die Kritik nicht zu tief ansetzen. Es geht weniger um detaillierte Prognosen, deren sich theoriegeleitete Forschung ohnehin zu enthalten pflegt, als um Haltungen und methodische Implikationen.

3.
Sozialwissenschaftliche Diagnosen forcierten Wandels liefern regelmäßig ein unvollständiges und normativ einseitiges Bild der Folgen. Das gilt nicht erst für den Phänomenkomplex der Globalisierung. Zur Plausibilisierung des Vorwurfs kann vielmehr an eine geradezu zum Selbstverständnis der Sozialwissenschaften gewordene Haltung gegenüber der Technik- und Wissenschaftsentwicklung erinnert werden. Sie kommt in einer charakteristischen Unterschätzung der Dynamik technischen Wandels zum Ausdruck. In der Tat haben die Sozialwissenschaften keine der vergangenen „Bedürfnisrevolutionen“ für möglich gehalten und sich darum den Vorwurf mangelnden Möglichkeitsbewußtseins (z.B. Krugman 1997) eingehandelt. Wenn es einen gravierenden Irrtum säkularen Ausmaßes auf seiten der gesellschaftsdiagnostisch ambitionierten Sozialwissenschaften nachzuweisen gilt, steht die Unterschätzung der ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Innovationspotentiale an erster Stelle. Sie korrespondiert der bereits in der Marxschen Ökonomie angelegte Fehleinschätzung der kapitalistischen Entwicklung als ein Nullsummenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital. Die Nullsummenspielprämisse kehrt in der notorischen, aber kontrafaktischen Annahme wieder, daß die gegenwärtig existierenden Schwellen- und Entwicklungsländer ihr Schicksal nur auf Kosten der Industrieländer verbessern können (vgl. Altvater 1992).[4]

Die konservative Schlagseite begrifflich informierter Diagnosen drückt sich v.a. darin aus, daß die mit Veränderungen assoziierten Optionen, einschließlich eventueller Innovationspotentiale, allenfalls anhand vergangener Ereignisse extrapoliert, aber nicht systematisch in Rechnung gestellt, geschweige denn ex ante i. S. kontingenter Möglichkeiten exploriert werden. Von einer soziologischen Methodik der Aufklärung über Innovationsoptionen, „counterfactuals“ und „mögliche Welten“ kann keine Rede sein.[5]  Folglich bilden die unscharfen Konturen des Syndroms Globalisierung eine nicht ohne weiteres zu meisternde Herausforderung der wissenschaftlichen Diagnosefähigkeit. Ungeachtet einer Serie von enttäuschten Krisenprognosen wird im Symptomkomplex der Globalisierung vielfach nur die Befestigung negativer Trends gesehen.[6]  Vermutete Charakteristika der neuen Phänomene werden auf einen Katalog neuer Randbedingungen des Gegebenen reduziert, das nunmehr, weil es gegenüber seiner Umwelt als konstant gesetzt ist, als in seinem Bestand gefährdet erscheint. „Enabling effects“ neuer Gegebenheiten und möglicher institutioneller Reaktionen werden ignoriert. Gegenüber dem sozialen Wandel, der sich ja nicht selbst zu erklärten vermag, gerät die klassische „constraint“-Wissenschaft zur Prophetin unvermeidlicher Übel.

Eine „Erfolgsvoraussetzung“ der oft auf bloße Klassifikation reduzierten Analyse ist es, die Interdependenz der Sachverhalte auszublenden. Weder werden die sich mit den beobachteten Veränderungen eröffnenden Optionen exploriert noch wird zur Kenntnis genommen, daß das scheinbar konstant Gegebene dank verschlungener Kausalbeziehungen mit den neuen Phänomenen längst andere Merkmale als die als konstant unterstellten angenommen hat. Wie schon beim Umgang mit Unsicherheit unter archaischen Sozialverhältnissen „deutet der Mensch unter dem Einfluß der Sprache die weitere Umwelt, indem er dem  Fernerliegenden und Unbekannten oft die Merkmale des Bekannten (...) zuschreibt“ (Topitsch 1971: 19). Die Neigung zur Reduktion ist umso größer, je stärker die verwendeten Begriffe noch in Weltbildern und Soziallehren mit holistischem Orientierungsanspruch verwurzelt sind und die Aussagen über empirische Realitäten mit Gruppenloyalitäten und einer Präselektion von Handlungsanweisungen verknüpfen (Topitsch 1971: 22-26).

Der derart restringierte Zugriff auf neuartige Phänomene liefert durchaus positiven Erkenntnisertrag, andernfalls hätte er längst seine Attraktivität verloren. Was ihm abgeht, ist die Perspektive auf Optionen, d.h. auf Prozeßausgänge die jenseits des Bestehenden liegen und deren Eintrittswahrscheinlichkeit modifizierbar ist. So mag man über die mit Novitäten assoziierten Beschränkungen und Risiken einigermaßen zuverlässig informiert werden, aber nicht oder nur unsystematisch über die veränderten Stabilitätsbedingungen der Verhältnisse sowie die sich im Zuge des Wandels eröffnenden Möglichkeiten. Den gegenwarts- wie den zukunftsbezogenen Aussagen unterliegen i.d.R. weitreichende, aber nicht explizierte ceteris paribus-Annahmen. Weil die im Zuge des Kontextwandels prinzipiell erreichbaren globalen Maxima (i.S. von Elster 1987, Kap. 1) außerhalb des Geltungsbereichs der ceteris-paribus-Klausel liegen, kann die anlaßgebende Veränderung nur als nachteilig interpretiert werden - sind doch die im „alten“ Kontext vermuteten globalen Maxima unrealisierbar geworden.

Der Sachverhalt der Globalisierung ist bekanntlich kein Ding, sondern die Vorstellung von einem Bündel unabgeschlossener Veränderungen mit einigermaßen komplexen, teilweise vorübergehenden, teilweise bleibenden, aber allemal vermischt auftretenden Folgen. Was ihre konkrete Gestalt und Ausprägung angeht, wird von den Sozialwissenschaften allein anhand bewährter Distinktionen zu klassifizieren versucht. Daraus resultieren zwei Risiken. Risiko Nummer eins folgt aus der Relevanz sozialwissenschaftlicher Interpretationen für praktisches Handeln. Soziale Interessen lassen sich erst vor dem Hintergrund von Annahmen über die Wirklichkeit formulieren, zu denen das wissenschaftliche Meinen mangels besserer Erkenntnis nicht unwesentlich beiträgt. In der Sprache der Wissenschaft formulierte Aussagen informieren somit auch Handlungsabsichten und  programme. Die in der Gesellschaft zirkulierenden Interpretationen einschließlich der durch sie angeregten Hoffnungen und Befürchtungen leiten konkrete Handlungen an und verhelfen manchen Erscheinungen der Globalisierung erst zur konkreten Gestalt. Mit anderen Worten: Es kann keine „ganz falschen“ Deutungen der Globalisierung geben, wenn alle Deutungen eine Chance haben, als self-fulfilling prophecy zu wirken. Denn: Was und wie über Globalisierung gedacht wird, bestimmt mit, wie und was aus „Globalisierung“ werden wird. Wenn Globalisierung kein determinierter Prozeß ist, was außer Frage steht, dann hat die „Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen“ (Merton 1971) Anteil an den Prozeßfolgen.

Risiko Nummer zwei betrifft die handlungspraktische Relevanz eines einseitig negativen Verständnisses der Globalisierung. Im Lichte der pessimistischen Interpretationen gerät der in Frage stehende Sachverhalt zu einem Verhängnis, das für Gestaltungsintentionen immun ist.[7]  Darum scheint frühzeitig, d.h. bevor die Entwicklung vollendet sind, Widerstand angebracht; kommt die Ablehnung zu spät, bleibt nur noch die Hinnahme des Unerwünschten. Der politische Alternativenraum erscheint demnach als zweigeteilt: auf der einen Seite die Option der „frühen“ Defensive, auf der anderen die Exploration und Nutzung etwaiger Einflußoptionen. Das entscheidende Kriterium betrifft die Vorstellung von der Gegenwart: Ist „Globalisierung“ ein noch wesentlich unvollendeter und womöglich gestaltbarer oder ein schon irreversibel gewordener und im Kern determinierter Sachverhalt? Die Defensivoption hätte nur im ersten Fall eine Erfolgschance - und müßte gleichwohl Rechenschaft über ihre Opportunitätskosten ablegen: Verspricht die Defensive mehr Nutzen als alternative Explorations- und Gestaltungsbemühungen? Eine angemessene Antwort ließe sich nur durch ernsthafte Explorationsbemühungen finden. Die Quintessenz liegt auf der Hand: Allein schon der Verdacht, daß sich die Zukunft beeinflussen ließe, nötigt zur Aufklärung von Übeln und Optionen.

4.
Entgegen der verbreiteten Skepsis sind in den „alten“ Industrieländern nicht nur negative, sondern - unter bestimmten Umständen - auch positive Globalisierungsfolgen erwartbar. Hintergrund dieser Behauptung ist die Möglichkeit einer als Positivsummenspiel zu charakterisierenden Entwicklung von Sozialproduktaggregaten in allen Teilen der Welt. Was die Entwicklungsländer angeht, so scheint das Theorem des komparativen Vorteils nachdrücklich bestätigt. Länder, die auf den Liberalisierungszug sprangen und nun stärker am Welthandel partizipieren, schneiden wirtschaftlich erfolgreicher ab als andere (Nunnenkamp 1996). Mit jeder weiteren Annäherung an das Technologieniveau und die Wirtschaftsstruktur der Industrieländer wachsen die Vorteile der ökonomischen Integration. Während nach dem „business-as-usual„-Szenario der OECD das Pro-Kopf-Sozialprodukt der (industriell konsolidierten) OECD-Länder im Jahre 2020 um 51 % gegenüber 1995 gewachsen sein wird, werden die Nicht-OECD-Länder im selben Zeitraum 101 % zugelegt haben.[8]  Ein auf radikale Marktöffnung und Haushaltskonsolidierung abgestelltes „high performance„-Szenario verspricht den Entwicklungsländern sogar einen Zuwachs des Pro-Kopf-Sozialprodukts von 1995 bis 2020 um 268 %, während die OECD-Länder im selben Zeitraum lediglich 80 % Wachstum verbuchen können (OECD 1997: 19).[9]  Die Wachstumsszenarien unterstellen zwar enorme zusätzliche Umweltlasten, doch eine realistische Alternative scheint außer Sicht. Ungünstigere ökonomische Entwicklungsdaten liefern auch eine andere Tagesordnung der globalen politischen Ökonomie, auf welcher Umweltfragen einen niedrigeren Rang einnähmen. Am Ende der beschleunigten Entwicklung dürften zwar deutlich reduzierte Bestände an Umweltqualität, aber günstigere Konsolidierungschancen stehen. Doch, pardon, die Umweltfrage ist in diesem Kontext nur ein Nebenaspekt.

Ein anderes Positivum stellt die Wachtumsprämie des Innovationswettbewerbs dar, die sich in handfesten Konsumentenvorteilen manifestiert. Es sind allerdings nicht unbedingt monetäre Wachstumsgewinne, die zur Stärkung der Nachfrageseite an den Güter- und Dienstleistungsmärkten führen und Verbrauchern wie Unternehmen neben relativ stabilen Preisen v.a. „mehr“ Innovation in kürzere Entwicklungs- und Vermarktungszyklen bescheren. Da die Märkte der Globalökonomie kompetitiver als nationale Märkte sind, werden die Anbieter vom verschärften Wettbewerb zu erhöhter Preisdisziplin genötigt. Dem Zwang zur Produktionskostensenkung läßt sich nur durch Steigerung des Innovationstempos und die Ausdifferenzierung der Innovationsfelder, d.h. die Suche nach (zeitweisen) Marktnischen und dem „natürlichen“ Monopol des Innovators, entkommen. Es ist darum einigermaßen realistisch, mit einer in quantitativer und qualitativer Hinsicht weiterhin rasch wachsenden Fülle von Gütern, z.B. immer neuen Informations-, Kommunikations , Unterhaltungs- und Dienstleistungsangeboten, zu rechnen. Deren Preise dürften stets rasch unter Konkurrenzdruck geraten, während für viele traditionelle Konsumgüter in den Bereichen Kleidung, Nahrung und Wohnung eher eine stabile oder gegenläufige Preisentwicklung zu erwarten ist. Es wird angenommen, daß sich der verschärfte Wettbewerb mehr in der beschleunigten Obsoleszenz von Produkten und dem Auftauchen von Nachfolge- und Konkurrenzangeboten bemerkbar machen wird als in einer ruinösen Preiskonkurrenz. Der Konsumentenvorteil zeigt sich demgemäß nicht allein im Wachstum des Sozialprodukts, sondern auch im Nutzenzuwachs neuer und verbesserter „Gebrauchswerte“.

Die tatsächliche Realisierung der zunächst nur möglich scheinenden Globalisierungsgewinne setzt institutionellen Wandel voraus. Denn die Vermutung, daß der zunehmende Wettbewerb einer erhöhten Zahl von Konkurrenten speziell die „alten“ Industriegesellschaften in eine nachteilige Lage zu bringen vermag, ist keineswegs abwegig. Nichtsdestotrotz kann das Abschmelzen der privilegierten Position und des Vorsprungs an technologischer Kompetenz in ein Nichtnullsummenspiel eingebettet sein, das Wachstumsgewinne auch für die Volkswirtschaften der „alten“ Industrieländer bereithält. Der gegenteilige Eindruck, daß per Saldo nachteilige Konsequenzen drohen, entsteht vor dem Hintergrund der ceteris-paribus-Annahme, daß die nationalen Institutionensysteme unmodifiziert fortbestehen. Die Nutzenbilanz, d.h. der Anteil an insgesamt erzielten Gewinnen, richtet sich dann nach der Eignung der gegebenen Institutionen bzw. dem Korrespondenzverhältnis zwischen diesen und der globalen Gelegenheitsstruktur. Dann geht u.U. selbst mit der positiven Nutzenbilanz die Benachteiligung großer Teile der Bevölkerung einher. Mit großer Wahrscheinlichkeit büßen gering qualifizierte Arbeitnehmer Beschäftigungs- und Einkommenschancen ein. In Abwesenheit institutionellen Wandels ist eine deutliche Verschlechterung der Verteilungsposition von Haushalten der unteren Einkommensgruppen zu erwarten.

Mit den folgenden Skizzen möglicher Institutionenreformen soll keineswegs suggeriert werden, diese ließen sich umstandslos und termingerecht implementieren. Um Implementationschancen überhaupt taxieren zu können, müßte nicht nur die Notwendigkeit institutioneller Anpassungen akzeptiert sein, sondern auch das Lampedusa-Paradox, nach welchem „alles“ zur Disposition zu stellen ist, wenn man möglichst viel beim alten belassen möchte. Die Erkenntnis, daß beim Verzicht auf Anpassungsmaßnahmen allein die prognostizierten Nachteile sicher sind, während die möglichen Gewinne ausbleiben, ist nur eine der notwendigen Voraussetzungen. Eine zweite ist in der „Theory of Second Best“ (Lipsey/ Lancaster 1956/57) formuliert. Vorausgesetzt, daß der Ausgangszustand (den wir wohl bereits verlassen haben) jedem anderen Zustand vorgezogen wird, bemißt sich die Qualität erstrebtenswerter Folgezustände an deren Nähe zu den Leistungscharakteristika der Ausgangslage. In systemisch strukturierten Wirkungszusammenhängen impliziert das aber keineswegs die („Struktur“ )Ähnlichkeit eines Systems mit zweitbester Leistungsbilanz. Die „zweitbeste“ Lösung erfordert vielmehr die Rejustierung vieler Systemparameter, d.h. ein komplexes Änderungsprogramm. Kann oder darf dagegen nur „Weniges“ geändert werden, fällt der Leistungsverlust wesentlich größer aus.

5.
Die wohl gravierendste, aber mehr und mehr Akzeptanz findende Anpassungsoption läßt sich als institutionelle De-sozialisierung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit charakterisieren. Klassische Industrieländer mit einer ausgeprägten Sozialstaatstradition erleben den Epochenbruch als „Globalisierungsschock“ (Beck 1997). Der Versuch, das gewachsene Institutionensystem in die Zukunft zu retten, ist mit Opfern an ökonomischer Performanz verbunden. Die Alternativoption einer gründlichen Institutionenreform weckt Verunsicherung und verteilungspolitische Begierden. Die Repräsentanten von Arbeitnehmerinteressen scheinen nur noch die Wahl zu haben, die Konsequenzen des Wandels zu leugnen oder einzuräumen, daß sie mit dem Rücken an der Wand stehen. Lassen sich doch alle wesentlichen Veränderungen auf einen simplen Sachverhalt zurückführen: Der Faktor Kapital profitiert im Unterschied zum Faktor Arbeit von erweiterten Mobilitätsoptionen und einem politisch uneinholbaren Innovationstempo, während der Faktor Arbeit, da er „lokalen“ Kulturen und den Identitätskonzepten konkreter Individuen verhaftet ist, in eine strukturell benachteiligte Position gerät und buchstäblich zurückbleibt.

Ein gesellschaftliches „Gleichgewicht“ in dem Sinne, daß allen Gesellschaftsmitgliedern Rollenskripte mit Praxisgelegenheiten geboten sind, die im Einklang mit dem kollektiven Wertehaushalt stehen, ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten. Ähnlich wie schon im 19. Jahrhundert, als die Institutionen der Sozialpolitik und der industriellen Beziehungen als Ergebnisse antagonistischer Konflikte entstanden, scheint heute wieder die Betonung der Ko-valenz mehrerer gesellschaftlicher Rationalitätsprinzipien gefordert, um der Reformdebatte Richtung zu geben. So wie die Institutionen des Sozialstaats auf eine fruchtbare Überwindung dogmatischer Interessendefinitionen des Kapitals und der Arbeit zurückgehen,[10]  scheint heute eine Korrektur „prä-globaler“ Sinnfiguren angebracht. Leitidee könnte die Frage sein, wie der Nettonutzen der Globalisierung gesellschaftlich verfügbar gemacht und in sozial akzeptabler Weise verteilt werden kann.

Die ungleichen Mobilitätschancen von Kapital und Arbeit und weiter wachsende Möglichkeiten der Substitution von Arbeitskraft durch Kapital[11] , resultieren im Rückgang des spezifischen Arbeitskraftbedarfs, aber v.a. des Faktoreinkommens der Arbeitskraft relativ zum Faktoreinkommen des Kapitals. In der wachsenden Kluft der Einkommen aus abhängiger Erwerbsarbeit und der Kapitaleinkommen (einschließlich der Gehälter der Spitzenmanager) wird ein säkularer Trend gesehen (Wirtschaftswoche, 5.6.1997).[12]  Im globalisierten Kapitalismus kommt die Aussicht auf eine strategisch herstellbare, wenn auch zeitlich begrenzte Marktüberlegenheit der Arbeitskraftanbieter abhanden. Weiterhin wird vermutet, daß korrigierende Eingriffe des Staates, wenn sie mehr als nur symbolische Wirkung hätten, Sozialprodukteinbußen verursachten, welche die Lage der negativ Betroffenen nochmals verschlechterten. Die mittel- und längerfristigen Folgen dieser Konstellation stellen das tradierte Verständnis von Sozialintegration in Frage.

Überlegungen, die beanspruchen, dem Umfang des Problems angemessen zu sein, müssen am herrschenden Verständnis des Begriffspaares Kapital und Arbeit ansetzen. Nach geltender Überlieferung bezeichnen die Begriffe gesellschaftliche Funktionsgruppen mit einer allenfalls schmalen und nur per Zufallskarriere erreichbaren Überschneidungszone. Politische Klassentheorien wie moderne Sozialstrukturanalysen beruhen auf der kategorialen Unterscheidbarkeit von Großgruppen, die sich entweder auf der Basis von Lohn  oder von Kapitaleinkommen reproduzieren. Ökonomen, die von den sozialen „Trägern“ der ökonomischen Funktionen abzusehen pflegten, indem sie von Produktionsfaktoren sprachen, wurden darum von Soziologen routinemäßig unter Ideologieverdacht gestellt. Empirisch ist jedoch seit langem eine Aufweichung der so eindeutigen Unterscheidung eingetreten: Während Kapitaleinkommensbezieher - zumindest nach den Regeln der akademischen Mikroökonomie - Opportunitätskosten in Höhe des alternativ erzielbaren Arbeitseinkommens veranschlagen müssen, wenn sie ihre Kapitalrendite anhand des Residualeinkommens berechnen, erzielt eine Mehrheit der Lohneinkommensbezieher bescheidene Kapitalerträge aus Sparguthaben und anderen Vermögenswerten.

Heute verweisen die gegensätzlichen Begriffssysteme der Soziologen und Ökonomen auf ungleich fruchtbare Optionen des Umgangs mit Globalisierungsfolgen. Die tradierte Unterscheidung versagt gegenüber dem veränderten Verhältnis von Marktchancen und Faktoreinkommen; sie läßt sich allenfalls zur Begründung protektionistischer Maßnahmen verwenden. Da letztere keine anhaltende Entlastung bieten, bleibt nur der Rückzug auf ein strikt funktionales (d.h. technisch-ökonomisches) Verständnis von Kapital und Arbeit. Sie sind als Produktionsfaktoren zu verstehen, über deren soziale Trägerschaft nicht a priori entschieden ist. M.a.W.: Es ist lohnender, die ungleichen Zugangschancen zu Kapitalerträgen als deren günstigere Wachstumschancen als Problem zu identifizieren. Damit öffnet sich der Horizont und gewährt den Ausblick auf dezidierte verteilungspolitische Strategien, die den Bezug von Kapitaleinkommen auf längere Sicht ebenso zu verallgemeinern versprechen wie historische Strategien der aktiven Proletarisierung die Verallgemeinerung der Lohnarbeiterrolle bewirkten. D.h. konkret: Will man den auf inklusiver Teilhabe beruhenden Gesellschaftsbegriff nicht aufgeben, so gilt es, die Annahme fallenzulassen, die abhängige Erwerbsbevölkerung könne und müsse sich in Zukunft auf der Grundlage von Gleichgewichtslöhnen reproduzieren.[13]

In der moderneren Klassentheorie ist die „Entsozialisierung“ des Eigentumsbegriff bereits vorgedacht. Bemühungen um eine systematische Rekonstruktion klassentheoretischer Unterscheidungen, denen m.E. allein im Analytischen Marxismus Erfolg beschieden war, gelangten zu einer Definition von Klassen, in deren  Kern nicht allein die den Individuen auferlegten Restriktionen (z.B. Gegenstand von Ausbeutung zu sein), sondern die zur Interessenoptimierung notwendigen Strategien stehen:

Im Kontext dieser Begrifflichkeit ließe sich das „De-sozialisierungs“-Postulat mit der Vermutung untermauern, daß ein nennenswerter und noch wachsender Teil der erwerbstätigen Bevölkerung über eine (im wesentlichen kognitive, im geringeren Umfang auch materielle) Ausstattung verfügt, die alternative Optimierungsstrategien zugänglich macht. Es ist danach nicht (mehr) von vornherein klar, geschweige denn von soziokulturellen Institutionen vorgezeichnet, ob man/frau von seinem/ihrem (i.w.S. Bourdieuschen) Kapital durch Übernahme einer Arbeitnehmer- oder einer Unternehmerrolle „den besten Gebrauch“ macht.

Der vorgeschlagene Perspektivenwechsel bedeutet nicht nur, einer vollbeschäftigten Arbeitsgesellschaft den Status der historischen Ausnahme zuzuerkennen, sondern auch eine alternative Perspektive auf höhere Niveaus der Erwerbsbeteiligung zu begründen (statt der Hoffnung zu huldigen, daß die Parameter von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage eines fernen Tages eine arbeitnehmerfreundlichere Konstellation eingehen würden). Die logische Alternative zum ansonsten naheliegenden Austeritätsgebot wäre danach die „Entdifferenzierung“ der Haushaltseinkommen. Parallel zu der am Arbeitsmarkt ausgerichteten wären auf Kapitalmarkt und Finanzanlagen zielende Einkommensstrategien zu entwickeln. Eine weitere Alternative, etwa der Ausbau steuerfinanzierter Transfereinkommen, ist wegen der Rückwirkungen auf Investitions- und Wachstumsbedingungen nicht gegeben. Der internationale Wettbewerb um Kapitalanleger und Steuerbürger bewirkt eine Verringerung der zur Umverteilung mobilisierbaren Mittel. So bleibt allein die Option, allen Bürgern die Beteiligung an den von der Globalisierung begünstigten Kapitalerträgen zu ermöglichen.

Tatsächlich ist es mit etwas Werbung für privaten Aktienbesitz und einer verbesserten Sparförderung nicht getan. Die gesellschaftsweite Normalisierung eines zweiten regulären Einkommenskanals setzt neben den bekannten unternehmensspezifischen Beteiligungsformen (Belegschaftsaktien, Investivlohn, Aktienoptionen) auch die Erschließung von Kapitalmarktgewinnen für Sozialbudgets und Nichtbeschäftigte voraus. Um Anreize für die Konversion niedrig verzinster Sparguthaben zu schaffen, bedarf es erheblicher Transparenzverbesserungen, einer wirksameren Kapitalmarktaufsicht sowie neuer Formen des Risikomanagements und der (staatlichen) Mindestsicherung.[14]  U.a. käme es darauf an, die Fonds der Sozialversicherungen vom stärkeren Wachstum der (globalen) Kapitalerträge profitieren zu lassen, statt sie an eine stagnierende oder rückläufige (nationale) Lohnsumme gebunden zu halten.

6.
Eine erfolgswirksame Nebenbedingung der Desozialisierung der Hauptproduktionsfaktoren ist als Universalisierung der Unternehmerrolle beschreibbar. Sie geht weit über das hinaus, was in historischen Projekten der katholischen Arbeiterbewegung angedacht und von ihrem zeitgenössischen Residuum, den CDU-Sozialausschüssen, thematisiert wurde. Es macht wohl nur insoweit Sinn, als man bereit ist, es in einer gewissen Radikalität durch- und zu Ende zu denken, geht es doch um nicht weniger als um die Entdifferenzierung des sozio-ökonomischen Rollenspektrums mit seinen Extrempositionen des Eigentümerunternehmers und der manuellen Arbeitskraft.
 
In das Bündel der notwendigen Voraussetzungen gehörten u.a. die Vermittlung soliden mikro-ökonomischen Grundwissens auf allen Stufen der schulischen Bildung, ein nüchternes Verständnis von Entscheidungen unter Unsicherheit, die Kenntnis der verschiedenen Teilbereiche und  Rationalitäten des kapitalistischen Wirtschaftssystems sowie, last but not least, der sozialen Rollen des modernen Kapitalismus. Letzteres schließt einen wesentlich breiteren, wenn schon nicht allgemeinen Zugang zu spezifisch unternehmerischen Fähigkeiten ein. Konsequenz wäre, daß weitaus mehr Individuen als heute über die Kompetenz zum Leben und Arbeiten als (i.w.S.) Unternehmer verfügten und dadurch zur Optimierung in wechselnden Gelegenheitsstrukturen, konkret: zum Wechsel zwischen den Rollen des Arbeitnehmers, des Werkauftragnehmers und des (auch als Arbeitgeber fungierenden) Selbständigen,[15]  befähigt wären. Das setzt wie gesagt die Verallgemeinerung (und Demystifikation) unternehmerischer „Feldkenntnis“ voraus, aber auch Wissen über die Techniken des ökonomischen Selbstschutzes, z.B. im Wege der Kalkulation vorsorgebedürftiger und versicherungsfähiger Lebensrisiken, durch Portfoliostrategien der Vermögensbildung usw.

Es ist zu vermuten, daß bereits bloße Hinweise auf potentiell lohnende Erkundungsbemühungen in der Richtung einer „inklusiven Unternehmergesellschaft“[16]  heftige Proteste nach dem Muster des parteipolitischen Wettbewerbs auslösen. Allerdings bestehen erhebliche Unterschiede zwischen dem, was Mitte-Rechts-Parteien anstreben, um die Verteilungsposition einer wohlhabenden Klientel zu stärken, und dem, was zu tun wäre, um die institutionellen Arrangements der Erwerbsbeteiligung und Kompentenzvermittlung zu einem Auffangbecken für Globalisierungsgewinne zu machen. Aufklärungsbedarf besteht nicht allein im Hinblick auf „Wie?“-Fragen, sondern mehr noch gegenüber Zweifeln am Sinn eines solchen Unterfangens. Warum könnte es sinnvoll sein, die Flucht nach vorn anzutreten? Zumindest drei Gründe sind benennbar, die sich zur genaueren Untersuchung anbieten.

Zum einen werden Wandlungen der Unternehmensorganisation und folglich der Arbeitsnachfrage beobachtet, nach denen Erwerbsorganisationen die einst als spezifisch „unternehmerisch“ etikettierten Fähigkeiten auch unterhalb der höchsten Ränge benötigen. Professionelle Karrieren im öffentlichen Dienst, aber noch häufiger in der privaten Wirtschaft, setzen seit langem ein Mindestmaß an Risikobereitschaft, Kreativität und Organisationsvermögen voraus, das auch die Basis erfolgreicher Unternehmertätigkeit abzugeben vermag. Eine Verallgemeinerung dieser Kompetenzen ist nicht nur als arbeitspolitisch sinnvoll anzusehen, sondern auch als „sozial gerecht“ (es sei denn, es existierte so etwas wie ein implizites „Recht auf Subalternität“). Zum zweiten dürfte ein Projekt der Verallgemeinerung des Zugangs zu Unternehmerrollen die organisierten Arbeitsmarktparteien in eine Position bringen, in der sie schwerlich Nein sagen können. Nicht nur Manager und Unternehmer müßten und könnten die notwendigen (z.B. gewerberechtlichen) Weichenstellungen begrüßen. Auch die Gewerkschaften hätten Grund, einer Erhöhung des Anteils selbständiger Erwerbsarbeit am Sozialprodukt das Wort zu reden. Jeder in die Selbständigkeit wechselnde Arbeitnehmer bedeutet einen doppelten Vorteil für die Interessenposition des Faktors Arbeit: Er senkt die Zahl der Konkurrenten um knappe Arbeitsplätze und erhöht die Chance auf eine Steigerung der Arbeitsnachfrage.

Zum dritten schließlich gibt es Grund, tradierte Einschätzungen der „contradictory classes“ (Erik Olin Wright) der Mittelschichten und des vermeintlich wenig progressiven Kleinunternehmertum zu revidieren. An erster Stelle sind der technologische Wandel und die Dynamik der IuK-Technologien zu nennen, dank deren Selbständige und Kleinunternehmer in manchen Bereichen zur technologischen Avantgarde zählen, während traditionelle Handwerker und Freiberufler aufhören, als Prototypen zeitgenössischer Selbständigkeit zu gelten. Im Zuge dieses Wandels dürften Selbständige mit spürbaren Gewinnen an sozialem Ansehen rechnen können. Auch die materiellen Bedingungen von Selbständigkeit und Freiberuflichkeit dürften eher weitere Verbesserungen als Verschlechterungen erfahren: im regulativen Rahmen, im Zugang zu Risikokapital und Unternehmensformen mit beschränkter Individualhaftung sowie im Zugang zu verwertbarem Wissen. In diesem Zusammenhang dürften auch kreditfinanzierte („leveraged“) Professionskarrieren an Bedeutung gewinnen und die in der akademischen Mittelschicht verbreitete Vorstellung ablösen, daß der Staat den in Sachen Bildung und Einkommen besonders ambitionierten Bürgern nicht nur ein kostenloses Universitätsstudium, sondern auch risikolose Optionen der abhängigen Erwerbstätigkeit im öffentlichen Sektor anzubieten habe.

Die skizzierte Option eines Übergangs von der Arbeitnehmer- zur „inklusiven Unternehmergesellschaft“ mag schwieriger zu realisieren sein als eine Kette inkrementalistischer Anpassungen an sich wandelnde Verhältnisse. Zur Verteidigung der Option läßt sich allerdings anführen, daß moderne Industriegesellschaften schon schwierigere Übergänge gemeistert haben, wie insbesondere den Übergang vom Manchesterkapitalismus des 19. zum Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts. Ausgehend von einem ungleich höheren Bildungsniveau, der „Ressource“ (sic) der Individualisierung und einem Kernbestand an sozialstaatlichen Sicherungen wäre eine Übergangsperiode von lediglich zwei bis drei Dekaden zu veranschlagen.

7.
Es sind aber auch neuartige Zugangshindernisse zu Globalisierungsgewinnen erwartbar. Sie machen sich im Wandel der „naturwüchsigen“ Verteilungsmechanismen bemerkbar. In der Wachstumsära der Nachkriegszeit hatte sich wirtschaftlicher Fortschritt v.a. in der stetigen Zunahme der monetären Wertmasse, ablesbar am Anstieg des Bruttoinlandsprodukts, niedergeschlagen. Die angebotenen Güter - Lebensmittel, Kleidung, Möbel, Reisen, Autos, Wohneigentum - hatten für alle Alters- und Bevölkerungsgruppen eine im großen und ganzen gleiche Signifikanz als Mittel der Bedürfnisbefriedigung. Diese Bedingung scheint in Zukunft nicht mehr erfüllt. Zum einen liegt es im Bereich des Möglichen, daß das Wachstum zeitweise hinter der Produktivitätsentwicklung zurückbleibt - und zwar nicht unbedingt aufgrund einer therapierbaren Konjunkturschwäche, sondern als Folge des erhöhten Preis- und Innovationswettbewerbs. Zum anderen wandelt sich die Zusammensetzung des angebotenen Güterbündels rascher als in der Vergangenheit. Beide Sachverhalte laufen auf eine erhöhte Fluktuation der relativen Preise hinaus, in denen sich die unterschiedlichen Produktivitätsgewinne der diversen Güter ausdrücken.

Das zur Zeit vorherrschende Innovationsmuster wirkt beispielsweise in der Weise, daß Grundbedarfsgüter ein stabiles bzw. leicht steigendes Preisniveau aufweisen, während innovative Produkte in verhältnismäßig kurzer Zeit eine weite Skala von hohen Einführungspreisen bis zu niedrigen Massengüterpreisen durchlaufen. Gleichzeitig sinken die relativen Preise für technologisch hochwertige Produkte als Folge von Funktionsanreicherung und Qualitätsverbesserungen. HiFi-Anlagen, Videotechnik, Spielkonsolen und Personalcomputer sind einschlägige Beispiele. Fachökonomen machen deshalb auf Wohlfahrtsgewinne aufmerksam, die sich nicht (mehr) in wachsenden Sozialproduktziffern ausdrücken, sondern in Preissenkungen und der qualitativen Wertsteigerung der technologisch avancierten Güter.[17]  Weil davon ausschließlich diejenigen profitieren, die die einschlägigen Produkte nachfragen, hat dieses Innovationsmuster inakzeptable verteilungspolitische Konsequenzen.

Wohlfahrtsgewinne, die sich in Modernisierungseffekten statt in monetären Größen ausdrücken, d.h. unmittelbar aus der Art und Dynamik des Innovationsprozesses sowie aus der laufend modernisierten Zusammensetzung des Güterangebots resultieren, kommen nicht allen Konsumenten zugute. Sie werden von jenen verfehlt, die sich aufgrund ihres geringen Einkommens mit Grundbedarfsgütern bescheiden müssen oder den technologischen Fortschritt mangels entsprechender kognitiver und kultureller Kompetenz ignorieren. Wer aber seine Nachfrage auf Güter eines bestimmten (vergangenen) Technologieniveaus beschränkt, hat keinen Anteil an den nichtmonetären Wohlfahrtsgewinnen. Während z.B. jüngere Konsumenten aus der Fülle der Produktinnovationen bei Ton- und Bildträgern, Unterhaltungs- und Kommunikationstechniken, Datenbanken und anderen Informationsquellen laufend Nutzengewinn schöpfen, sehen sich Angehörige der älteren Generationen den stabilen oder steigenden Preisen der von ihnen konsumierten Güter konfrontiert. Als Geringverdiener oder Technotraditionalisten bleiben sie sowohl von den ökonomischen als auch von den qualitativen Wachstumsgewinnen unberührt; im ungünstigsten, aber keineswegs unwahrscheinlichen Fall erleben sie eine Preisinflation, ohne durch deflatorische Effekte in anderen Teilen des Warenangebots entschädigt zu werden.

Wenn das Tempo der Technikentwicklung anhält, ist also mit einer Segmentierung der Gesellschaft in unterschiedliche „Techno-Milieus“ zu rechnen. „Technologisch“ ältere Generationen werden dann zu Benachteiligten einer Innovationsdynamik, von der allein jüngere Altersgruppen und eine konsumavantgardistische, aber zahlenmäßig kleine Boheme profitieren. Um eine derart verzerrte Verteilungsordnung sozial akzeptabel zu machen bzw. zu korrigieren, bedarf es neuer Institutionen der Vermittlung von alltagsweltlichen Bedürfnissen und modernen Möglichkeiten. Diese mögen teilweise in einer Subventionierung, vielleicht sogar in der kostenlosen Verfügbarmachung von Grundbedarfsgütern bestehen, in großzügigen Bildungs- und Partizipationsangeboten sowie in einer öffentlichen Infrastruktur, die das auf jeweils höchstem Technologieniveau produzierte Sozialprodukt auf zugänglicheren Niveaus erkennbar und genießbar macht. Andernfalls würden sich die ökonomischen Gewinne der Globalisierung nur in der Wirtschaftsstatistik und in den Accessoires einer Minderheit widerspiegeln, während sich die Mehrheit der Bevölkerung um die Früchte ihrer Anpassungsbereitschaft betrogen sähe.
 

8.
Im weiteren Zusammenhang der vorgetragenen Überlegungen scheint es gerechtfertigt, auch auf eine ungetilgte Bringschuld der Sozialwissenschaften gegenüber der im Wandel begriffenen Gesellschaft hinzuweisen. Da keine andere Wissenschaftsdisziplin zuständig zu sein scheint, bleibt es Sache der Sozialwissenschaften, zur verbesserten Verfügbarkeit ihrer Erkenntnisse, d.h. zu Vermittlungsleistungen an den Schnittstellen von professioneller Produktion und gesellschaftlicher Kommunikation, beizutragen. Das Postulat gilt zum einen der Entwicklung einer Teildisziplin, welche sich auf die konsistenzbemühte Systematisierung und Synthetisierung der Fülle von einschlägigen Einsichten und Analysefrüchten spezialisiert und - jenseits der modischen Selektivproblematisierungen und Krisendiskurse - um verlustarmen Wissenstransfer in gesellschaftspolitische Debatten bemüht. Immerhin dürfen die Sozialwissenschaften für sich reklamieren, als Kustoden und Administratoren wichtiger Teile des gesellschaftlichen Orientierungssystems zu wirken und damit auch dessen Blindstellen und Untiefen zu kennen. In Zeiten forcierten Wandels ist es nötiger denn je, eine Evalution der Entscheidungen informierenden Weltbilder vorzunehmen und verläßliche Auskünfte über die empirischen und logischen Grundlagen des wissenschaftlichen Meinens zu geben.

Zum anderen ist es an der Zeit, die versprengt vorliegenden Erkenntnisse über den Variantenreichtum moderner Wirtschaftssysteme, zeitgenössischer Unternehmensorganisation, sozialpolitischer Sicherungen sowie aktueller Regierungs- und Steuerungsformen zu einer Art „positiver Kapitalismustheorie“ zu kondensieren. Diese könnte einem größeren Publikum u.a. begreiflich machen, wie wenig die überstrapazierten Begriffspaare vom Typ „Kapital-Arbeit“, „Markt-Staat“, „Individuum-Gesellschaft“, „konservativ-progressiv“ oder „liberal-sozial“ zum Verständnis der Wirklichkeit leisten. Und um wieviel weniger sie geeignet sind, über Möglichkeiten der Gestaltung dieser Wirklichkeit zu informieren.
 

Anmerkungen

[1] Von Manifestationen radikaler Kritik an den Ursachen und Folgen des Globalisierungsprozesses wie bei Martin/ Schumann (1996) und Forrester (1997) wird hier abgesehen.
[2] Dazu u.a. Scharpf (1989) und Schmidt (1998).
[3] Dazu v.a. Wagner (1996).
[4] Tatsächlich haben Entwicklungsländer vom zunehmenden Freihandel profitiert (vgl. IMF 1995, 1998; Nunnenkamp 1996; Krugman 1997). Die zu normativer Routine geronnene Annahme wachsender globaler Polarisierung und Ungleichheit wird gleichwohl weiter vertreten. Vgl. u.a. Koch (1997) und Müller (1997).
[5] Zur Logik kontrafaktischer Analysen vgl. Elster (1981) und Hawthorn (1989).
[6] Zur Auffassung, daß der Globalisierungsprozeß nur eine Extrapolation vergangener Trends darstellt, vgl. Hirst/Thompson (1996), Altvater/Mahnkopf (1996), Friedrichs (1997) u.a.
[7] Vgl. Koch (1997), dessen zwischen Kapitalismuskritik und  mystik schwankende Position das Beispiel fröhlicher Resignation ist.
[8] Die Gruppe aller Entwicklungsländer kann bereits seit Ende der 80er Jahre durchschnittliche jährliche Wachstumsraten oberhalb des OECD-Durchschnitts verbuchen: von 4,5 % im Zeitraum 1977-86 auf 5,5 % von 1987 bis 1996. In Asien stieg die durchschnittliche Wachstumsraten sogar von 6,7 auf 7,7 % (IMF 1995: 97).
[9] Während die ökonomischen Interessen der entwickelten und der unterentwickelten Länder im Liberalisierungsparadigma zu konvergieren scheinen, bahnt sich eine Verschärfung des internationalen Umweltkonfliktes über die Folgen des bevorstehenden Wachstumsschub an. Schon im „business-as-usual„-Szenario steigen die CO2-Emissionen bis 2020 von jährlich knapp 6 Mrd. auf 11 Mrd. Tonnen; das „high performance„-Szenario prognostiziert eine Steigerung auf knapp 14 Mrd. Tonnen (OECD 1997: 34).
[10] Seinerzeit wurden auf beiden Seiten, bei der organisierten Arbeit wie beim verbandlich repräsentierten Kapital, einander ausschließende Situationsdeutungen gepflegt. Den einen schien ein staatlich oktroyierter Schutz der Arbeitskraft nur die Leidensphase der ausgebeuteten Arbeiter zu verlängern (da man den baldigen Umsturz der Verhältnisse erwartete), den anderen galten Pflichtbeiträge der Unternehmen zur Sozialversicherung als so unverträglich mit den "Gesetzen“ des Marktes, daß der simultane Zusammenbruch von Warenabsatz und Arbeitsmoral erwartet wurde. Es bedurfte der "Erfindung“ komplexerer Deutungen durch die als innovative change agents agierenden "Sozialpolitiker“, um das kognitive Schisma zu überwinden. Vgl. Heclo (1982).
[11] Im Zuge der Fortschritte bei der Softwareprogrammierung wurden selbst komplexe Organisationsprozesse in „tasks“ der elektronischen Datenverarbeitung transformierbar (vgl. die Konzepte des „re-engineering bei Hammer/Champy (1994).
[12] Während die Realeinkommen der Arbeitnehmerhaushalte in den 10 Jahren zwischen 1987 und 1997 nur geringfügig zunahmen, stiegen die Aktienkurse an den deutschen Börsen um fast 350 % (Wirtschaftswoche, 5.6.1997; vgl. Mayer 1997). Für die USA mit ihrer größeren Einkommenskluft wurde das Wort von der „The Winner-Take-All-Society“ (Frank/Cook 1995) geprägt.
[13] Gleichgewichtslöhne bezeichnen die Lohnsätze, bei denen das gesamte Arbeitskraftangebot Beschäftigung fände. Wegen des bestehenden Angebotsüberhangs würden die Gleichgewichtslöhne weit unterhalb der tarifierten Lohnsätze liegen.
[14] Vgl. dazu mehrere Beiträge in Heft 11/1997 der Zeitschrift „Die Mitbestimmung“.
[15] Dem korrespondiert ein als „portfolio way of life“ (Handy 1996: 26) beschriebenes Biographiemuster und ein Wandel des Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnisses nach dem Modell einer Anbieter-Kunden-Beziehung.
[16] Der Begriff „inklusive Unternehmergesellschaft“ soll in absichtvoller Zuspitzung das Einströmen von Momenten unternehmerischen Handels in alle sozio-ökonomischen Rollen, auch die der abhängigen Erwerbsarbeit, hervorheben. Er bezeichnet die vielfältigen Anpassungsbedarfe und den Charakter des für nötig erachteten Rollenwandels präziser als Formulierungen wie „Erwerbsgesellschaft“ oder „Human Investment State“  (Lester Thurow).
[17] Seit einigen Jahren wird verschiedentlich von Wirtschaftsbeobachtern eine Verstärkung deflationärer Entwicklungen für möglich gehalten. Im vorliegenden Zusammenhang wird jedoch weniger auf ein Sinken des allgemeinen Preisniveaus angespielt als vielmehr auf beobachtbare Tendenzen einer „technischen“ Deflation, bei der die Preise einzelner Warengruppen als Folge der technischen Entwicklung oder verschärften Wettbewerbes sinken.
 
 

Literatur
Albert, Hans, 1971: Wertfreiheit als methodisches Prinzip. Zur Frage der Notwendigkeit einer normativen Sozialwissenschaft. In: Topitsch, Ernst (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 181 212.
Altvater, Elmar, 1992: Die Zukunft des Marktes. ein Essay über die Regulation von Geld und Natur nach dem Scheitern des ‘real existierenden’ Sozialismus. Münster: Verl. Westfäl. Dampfboot.
Altvater, Elmar/ Mahnkopf, Birgit, 1996: Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. Münster: Verlag Westfäl. Dampfboot.
Beck, Ulrich, 1994: Vom Veralten sozialwissenschaftlicher Begriffe. Grundzüge einer Theorie reflexiver Modernisierung. In: Görg, Christoph (Hg.): Gesellschaft im Übergang. Perspektiven kritischer Soziologie. Darmstadt: Wiss. Buchges., 21 43.
Beck, Ulrich, 1997: Die Eröffnung des Welthorizontes: Zur Soziologie der Globalisierung Soziale Welt 47 (1), 3 16.
Elster, Jon, 1981: Logik und Gesellschaft. Widersprüche und mögliche Welten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Elster, Jon, 1985: Drei Kritiken am Klassenbegriff. In: Luhmann, Niklas (Hg.): Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee. Opladen: Westdeutscher Verlag, 96 118.
Elster, Jon, 1987: Subversion der Rationalität. Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag.
Ferber, Christian von, 1971: Der Werturteilsstreit 1909/1959. Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Interpretation. In: Topitsch, Ernst (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 165 180.
Forrester, Viviane, 1997: Der Terror der Ökonomie. Wien: Zsolnay.
Frank, Robert H./ Cook, Philip J., 1995: The Winner-Take-All Society. How More and More Americans Compete for Ever Fewer and Bigger Prizes. New York: Free Press.
Friedrichs, Jürgen, 1997: Globalisierung - Begriff und grundlegende Annahmen. Aus Politik und Zeitgeschichte B33 34/97, 3 11.
Hammer, Michael/ Champy, James, 1994: Reengineering the Corporation. A Manifesto for Business Revolution. New York: HarperBusiness.
Handy, Charles, 1996: The Coming Work Culture. In: ders.: Beyond Certainty. The Changing World of Organisations. London: Arrow Books, 23-31.
Hawthorn, Geoffrey, 1989: Plausible Worlds: Counterfactuals in Explanation and Understanding in History and the Social Sciences. Ms. Center for European Studies, Harvard University.
Heclo, Hugh, 1982: Toward a New Welfare State? In: Flora, Peter/Heidenheimer, Arnold J. (Hg.): The Development of Welfare States in Europe and America. New Brunswick, London: Transaction Books, 383 406.
 Hirst, Paul/ Thompson, Grahame, 1996: Globalization in Question. The International Economy and the Possibilities of Governance. Cambridge: Polity Press.
IMF (International Monetary Fund), 1995: World Economic Outlook October 1995. Washington, DC: IMF.
IMF (International Monetary Fund), 1998: World Economic Outlook May 1998. Washington, DC: IMF.
Koch, Claus, 1997: Im Diesseits des Kapitalismus. In: Bohrer, Karl Heinz/ Scheel, Kurt (Hg.): Kapitalismus als Schicksal? Sonderheft Merkur, 763 777.
Krugman, Paul, 1997: Is Capitalism Too Productive? Foreign Affairs 76 (5), 79 94.
Lipsey, R.G./ Lancaster, K., 1956/57: The General Theory of Second Best. Review of Economic Studies 24, 11 32.
Martin, Hans P./ Schumann, Harald, 1996: Die Globalisierungsfalle. Hamburg: Rowohlt.
Mayer, Otto G., 1997: Globalisierung und wohlfahrtsstaatliche Aufgaben. Aus Politik und Zeitgeschichte B33 34/97, 29 38.
Mayntz, Renate, 1971: Soziologie in der Eremitage? Kritische Bemerkungen zum Vorwurf des Konservativismus der Soziologie. In: Topitsch, Ernst (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 526 542.
Mayntz, Renate, 1996: Gesellschaftliche Umbrüche als Testfall soziologischer Theorie. In: Clausen, Lars (Hg.): Gesellschaften im Umbruch. Frankfurt/M., New York: Campus Verlag, 141 153.
Merton, Robert K., 1971: Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen. In: Topitsch, Ernst (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 144 164.
Müller, Hans-Peter, 1997: Spiel ohne Grenzen?. In: Bohrer, Karl Heinz/ Scheel, Kurt (Hg.): Kapitalismus als Schicksal?. Sonderheft Merkur, 805 820.
Nunnenkamp, Peter, 1996: Winners and Losers in the Global Economy. Recent Trends in the International Division of Labour and Policy Challenges. Kiel: Institut für Weltwirtschaft.
OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development), 1997: Towards A New Global Age. Challenges and Opportunities. Paris: OECD.
Popper, Karl R., 1971: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften. In: Topitsch, Ernst (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 113 125.
Scharpf, Fritz W., 1989: Politische Steuerung und Politische Institutionen. Politische Vierteljahresschrift 30 (1), 10 21.
Schimank, Uwe, 1992: Erwartungssicherheit und Zielverfolgung. Sozialität zwischen Prisioner’s Dilemma und Battle of the Sexes. Soziale Welt 43 (2), 182 200.
Schmidt, Volker, 1998: Soziologische und philosophische Normenanalyse. Mimeo, Harvard University, Center for European Studies.
Topitsch, Ernst (Hg.), 1971: Logik der Sozialwissenschaften. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch.
Topitsch, Ernst, 1971a: Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung. In: Topitsch, Ernst (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 17 36.
Topitsch, Ernst, 1971b: Das Verhältnis zwischen Sozial- und Naturwissenschaften. Eine methodologisch-ideologiekritische Untersuchung. In: Topitsch, Ernst (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 57 71.
Wagner, Gerhard, 1994: Am Ende der systemtheoretischen Soziologie. Niklas Luhmann und die Dialektik. Zeitschrift für Soziologie 23 (4), 275 291.
Wagner, Gerhard, 1996: Differenzierung als absoluter Begriff. Zur Revision einer soziologischen Kategorie. Zeitschrift für Soziologie 25 (2), 89 105.
Wiesenthal, Helmut, 1994: Lernchancen der Risikogesellschaft. Über gesellschaftliche Innovationspotentiale und die Grenzen der Risikosoziologie. Leviathan 22 (1), 135 159.
Wiesenthal, Helmut, 1997: Methodologischer Individualismus als Akteurtheorie. In: Benz, Arthur/ Seibel, Wolfgang (Hg.): Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft - eine Zwischenbilanz. Baden-Baden: Nomos, 75 99.
Wiesenthal, Helmut, 1998: Globalisierung als Epochenbruch - Maximaldimensionen eines Nichtnullsummenspiels. Ms. Berlin.
Wirtschaftswoche, 5.6.1997: „W+P Kapitalismus: Üppig wachsen“, 32-37

© Helmut Wiesenthal 1998
Permission is granted to copy this article electronically as well as print and distribute it on condition that it is made available to others in its complete and unmodified form. Extracts from this article may be quoted on condition that these correctly acknowledge the authorship and clearly identify the URL from which a full copy can be obtained.

An den Anfang.
Zur Übersicht.