Helmut Wiesenthal
 
 
 
Bündnisgrüne in der Lernkurve:
Erblast und Zukunftsoption der Regierungspartei
 
Vollständige Fassung abgedruckt in:
"Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur",
ISSN 0723-7669
{Postfach 900609, 60446 Frankfurt, Tel. 069-792097-81, Fax -83}
17. Jahrg., Nr. 5/99, Mai, Seiten 35-50.
 

1. Unheimlich real: ein Negativszenario

Obwohl es nicht die erste Wahlniederlage der Grünen war, bewirkte das Ergebnis der Hessenwahl vom 7. Februar 1999 eine schlagartige Veränderung der Chancenlage. Die Ablösung der rotgrünen Landesregierung geht allein zu Lasten des kleineren Koalitionspartners. An diesem Wahlabend wurde ein bestimmtes Negativszenario realistisch.

Nach diesem Szenario setzt sich die 1997 begonnene Serie von Wahlniederlagen fort. Die grünen Landtagsfraktionen schrumpfen nach dem Muster der Hessenwahl; der ersehnte (Wieder ) Einzug in ostdeutsche Parlamente mißlingt. Weder das Erscheinungsbild der Gesamtpartei noch eine positive Leistungsbilanz der Bonner Regierungsgrünen können den Schaden wiedergutmachen. Vielmehr werden sich die Wirkungschancen der grünen Bundestagsfraktion und ihrer Minister rapide reduzieren; das politische Handlungsfeld erscheint als über alle Grenzwerte hinaus konta­miniert. Der Bundesaußenminister wird sich fragen lassen müssen, welchen Wert seine Aussagen und Vereinbarungen nach einem Wechsel an der Spitze des Auswärtigen Amt haben werden. Umweltminister und Gesundheitsministerin begegnen immer häufiger heiter gestimmten Lobbyisten, die sich auf das Verschwinden der ungeliebten Ressortchefs eingestellt haben. In den Koalitionsgesprächen legt der größere Partner noch weniger Eile an den Tag als zuvor, wenn es um die Realisierung des gemeinsamen Arbeitsprogramms geht. Und die Kommunikation zwischen den Repräsentanten der beiden Parteien nimmt eine eigentümliche Form an: Der SPD-Vertreter erkundigt sich freundlich-herablassend nach Befinden und Anliegen des Partners; dessen eine VertreterIn pflegt daraufhin, mit Nachdruck an die Einhaltung der (vertraglich!) getroffenen Abmachungen zu erinnern; die andere VertreterIn versucht, das Klima mit Verweis auf die schwierige Lage („..Wählerverluste treffen irgendwann einmal jede Partei“) und etwas Selbstironie („...das Problem ist keineswegs neu für uns“) zu retten. Das Gespräch endet typischerweise mit der Empfehlung an das grüne Verhandlerduo, sich ersteinmal untereinander zu einigen. Dann wolle man weitersehen. Vorher gelte es aber, die Wahl in XYZ abzuwarten. Die SpitzenpolitikerInnen der Grünen gewinnen den Eindruck, daß die Zeit solidarischer Partnerschaft beendet ist. Es sieht so aus, als wolle die SPD ihr Schicksal von dem der Grünen abkoppeln. Das Klima bessert sich auch nicht dadurch, daß besorgte Grüne der SPD mit der schwarz-grünen „Option“ drohen.

Weil die unglückliche Lage der grünen Regierungspartner „draußen im Lande“ nicht unbemerkt bleibt, werden mehr und mehr Funktionsträger und Parteimitglieder von Zweifeln gepackt. Wie üblich finden die schlechten Wahlergebnisse ganz unterschiedliche Erklärungen: „...weil das Programm verraten wurde“, „ ...weil die Erfolge nicht ordentlich dargestellt wurden“ oder „... weil man die Ziele nicht richtig vermittelt hat“. Der Streit über Therapien wird zum altbekannten Richtungsstreit, der vom Zickzackkurs gegensätzlicher Strukturreform begleitet ist und in einem Teufelskreis endet: Jedes neue Negativereignis bestätigt und überbietet das vorangegangene. Die Grünen zerlegen sich wieder fein säuberlich in zwei Strömungen, von denen jede beansprucht, den einzig richtigen Rettungsweg zu kennen. So gleicht das Ende dem fast vergessenen Anfang: Chaos, Streit und die ewige Frage, ob das grüne Projekt noch eine Zukunft hat.

Das ist, zugegeben, ein krass pessimistisches Bild. Selbst wenn wirklich noch weitere Niederlagen eintreten, muß es nicht notwendig zum bitteren Ende kommen. Aber das Niedergangsszenario verdeutlicht, was in den ersten Jahren der neuen Regierungspartei auf dem Spiel steht: nicht nur der Verlust einer wertvollen gesellschaftspolitischen Einflußpositition, sondern auch die Entwertung der alternativen Oppositionsrolle. Einer abgewählten Regierungspartei sind weder die Sitze auf der Oppositionsbank sicher noch die Aufmerksamkeit, die sie als regierungsunerprobte Opposition genoß. Der Öffentlichkeitswert einer gescheiterten Regierungspartei ist geringer als der einer aufsteigenden Opposition.
 

2. Unwahrscheinlich schön: ein Positivszenario

Unter der Handvoll Regierungs  und den vielen Tausend Berufsgrünen sind selbstkritische Überlegungen nicht immer willkommen. Der Einzug ins Kabinett hat nicht nur Hoffnungen und Ambitionen beflügelt, sondern auch die Neigung zu Selbstzufriedenheit und Selbstvergessenheit gestärkt. Eine Wahlniederlage wie im Dezember 1990, als man die Quittung für oppositionelle Arroganz kassierte, scheint heute vielen „unmöglich“. Das von ihnen unterstellte Positivszenario läßt sich wie folgt ausmalen.

Die „Konsensgespräche“ mit der Energiewirtschaft münden in ein Kernkraft-Moratorium, das in bundesweiten Straßenfesten als „Umkehr der Entwicklungslogik“ und Start eines neuen Gesellschaftsmodells gefeiert wird. Eine Serie umfangreicher Investitionen in neue Energie(spar)­tech­niken reduziert die Arbeitslosigkeit um mehrere Millionen. Die von den Grünen verantworteten Gesundheitsreformen erweisen sich nicht nur als kostensenkend, sondern auch als Garanten höherer Versorgungsqualität und erweiterter Patientenautonomie. Die Entdeckung der Familienpolitik als neuen Programmkern und Medium der „ökologischen Aufklärung“ verschafft den Grünen einen ungeahnten Zustrom an WählerInnen. Schließlich findet der Kompromiß über das Staatsbürgerschaftsrecht nicht nur bei unfreiwilligen Ausländern, sondern selbst bei Teilen der Opposition großen Anklang. Und die Triumphe deutscher Außenpolitik bei der globalen Durchsetzung der Menschenrechte werden nicht nur der Kompetenz des Außenministers, sondern auch dem sachlichen Diskussionsklima bei den Grünen und der hohen Verantwortungsbereitschaft von Fraktion und Parteiführung zugeschrieben. Natürlich vermögen die Grünen beim besten Willen nicht, die Aufgabenlast einer erfolgreichen Regierung allein zu tragen. Aber sie hatten ja eine glückliche Hand bei der Wahl ihres Partners: Der sorgt für hohe Mindestlöhne und einen Haushaltsausgleich ohne zinstreibende Neuverschuldung oder die Nachfrage dämpfende Steuererhöhungen. Dadurch kommt schließlich die wahre Attraktivität des Standorts Deutschland - mit seinem exzellenten Bildungssystem, der differenzierten Abfallentsorgung und der Treue zur mittelalterlichen Handwerksordnung - ans Licht.

Ab 2001 steht Deutschland im Zentrum der Weltaufmerksamkeit; ausländische Medien und Millionen naturschonend angereister Besucher zollen dem Reformerfolg uneingeschränkte Bewunderung; sie füllen die Straßen und Plätze von Konstanz bis Wismar; sie overcrowden die Pressekonferenzen, auf denen Umweltminister und Gesundheitsministerin die Synergieeffekte ihrer koordinierten Regulations- und Bildungspolitik feiern. Der Umweltminister erhält sogar den Nobelpreis für Ökonomie - für die Entdeckung des Zusammenhangs von Umweltschäden und Mor­bidität (das Frauenreferat beim Bundesvorstand protestiert pflichtschuldigst). Selbst scheinbar nebensächliche Details der Reformen tauchen anderenorts wieder als Wahlkampfthemen auf: in Atlanta und Addis Abeba, Beirut und Bogota, Peking und Palermo, ja selbst in Seoul und São Paulo. Allein ein Schatten fällt auf die Erfolgsbilanz: Müsse nicht das Grundgesetz, so meinen Verfassungsrechtler, um ein Wiederkandidaturverbot für Parteien ergänzt werden, die 20 Jahre lang ununterbrochen regiert haben?

Das hübsche Bild hat einen weiteren Fleck. Die zugrunde gelegten Annahmen entsprechen nicht der Wirklichkeit. In dieser Hinsicht ist das Negativszenario eindeutig überlegen. Mit anderen Worten, zwischen den realen Gefahren und den vorherrschenden Orientierungen besteht eine weite Kluft. Die Neigung, sich ein Welt- und Wunschbild zu malen, das die Risiken der eigenen Existenz ebenso wie die Legitimität konkurrierender Weltbilder außen vor läßt, ist ungebrochen. Wenn sich aber politische Akteure über drohende Gefahren so gründlich täuschen, ist es wenig wahrscheinlich, daß sie akuten Krisen mit besonnenen Entscheidungen begegnen werden. Ihre spontanen Reaktionen - das hat man intensiv vor der Bundestagswahl 1990 und zuletzt 1998 in Magdeburg getestet - machen sie vielmehr zum Spielball der mit mehr Selbstkontrolle begabten Konkurrenten.

Die Quintessenz des szenariengestützten Gedankenspiels liegt auf der Hand: Die Grünen dürfen ihrer nächsten Krise sicher sein. Wenn sie noch nicht akut wurde, so ist sie doch schon - paradox formuliert - „latent existent“, weil in dem schroffen Gegensatz von Handlungsorientierungen und Handlungsbedingungen angelegt.

 

3. Welche Krise und wodurch?

Krisendiagnosen begleiten die Grünen seit ihrer Gründung. Sie behielten ihren medialen Kurswert selbst noch, als man den Einzug in die meisten Landesparlamente geschafft und zu einem respektierten Regierungspartner geworden war. Der großzügige Gebrauch des Krisenbegriffs erstreckt sich mittlerweile schon auf das Ausbleiben von Streit und das Erlernen von Parteitagsroutinen („...die Krise wurde nur am Rande behandelt ...“). Es lohnt deshalb nicht, den früheren Krisendiagnosen nachzuspüren, um darin das vermeintlich „ewig Grüne“ zu entdecken. Vielmehr können die Grünen auf einen langen und tiefgreifenden Veränderungsprozeß zurückblicken, in dem sich auch ihre Krisenanfälligkeit wandelte.

Unter den 1998/99 grassierenden Krisendiagnosen lassen sich mindestens drei Varianten ausmachen: (1) die These einer Krise der politischen Ziele bzw. „Inhalte“, die die Fortgeltung grüner Mythen unterstellt, (2) die These einer Strukturkrise, die auf die organisatorische Verfaßtheit der Bündnisgrünen, z.B. eine Fehlallokation innerparteilicher Macht, zurückgeführt wird, und (3) die These der Unzulänglichkeit des politischen Personals, also der mit Amt oder Mandat ausgestatteten Repräsentanten.

(1) Am Ende der grünen Mythen

Die politischen Zielkoordinaten der Bündnisgrünen gerieten nicht unverdient in die Kritik, als die Ergebnisse des Magdeburger Programmparteitags von 1998 bekannt wurden. Paradoxerweise besaßen aber die inkriminierten Beschlüsse zum Militäreinsatz im Kosovo und einer prohibitiven Kraftstoffbesteuerung keinerlei Neuigkeitswert. Sie sollten lediglich der bruchlosen Verlängerung grüner Programmgeschichte in die Ära der Regierungsbeteiligung dienen. In ihnen drückte sich die ebenso ehrliche wie weltentrückte Haltung aus: „Wir wollen so regieren, wie wir zu reden gewohnt sind.“ Die eilfertigen Interpretations- und Korrekturbemühungen signalisierten ein gehöriges Maß an Opportunismus. Doch bemerkenswerter ist das verklausulierte Eingeständnis, die Innen-Außen-Differenz politischer Diskurse übersehen zu haben. „Nach Magdeburg“, so wurde vielfach gefolgert, würden die Grünen nicht mehr dieselben sein.

Der Vorwurf einer „Krise der Inhalte“ geht Hand in Hand mit einer Kritik der grünen „Mythen“. Welches sind die Mythen der Grünen, oder fairer gefragt, welcher Mythen bedurfte es, um zu einer neuen politischen Kraft zu werden und den prekären Zusammenhalt der Partei über nunmehr zwei Jahrzehnte zu gewährleisten? Der Katalog der im Laufe der Zeit zur integrativen Selbstvergewisserung in Dienst genommenen Mythen ist beeindruckend. Die meisten sind jedoch längst obsolet. Die Grünen - und hier meine ich nur den westdeutschen Zweig, nicht die teils „anders“, teils in geringerem Maße mythisch belasteten Ostdeutschen - haben sich bereits von etlichen der Geschichte entlehnten oder selbstgeschöpften Mythen verabschiedet, ohne daß damit ihre Krisenanfälligkeit wesentlich geringer geworden wäre.

Schon vor dem Zusammenbruch des Realsozialismus hatte man den Abschied von der anfänglich wohlrepräsentierten sozialistischen Utopie vollzogen, für welche die Ökosozialisten Hamburger Provenienz standen. Damit hatten zugleich die (mehr im- als expliziten) Präferenzen für sozialistische Institutionen (vergesellschaftete Produktionsmittel, Arbeiterselbstverwaltung, Protektionismus, Wirtschaftslenkung, gesteuerte Wissenschaft und strikte Innovationskontrolle) ihre Basis verloren. Etwa zur selben Zeit verblaßte der mythisch überhöhte Antikapitalismus, dessen Befürworter zahlreicher als die kleine Schar der Ökosozialisten waren. Seitdem gelten die marktförmige Koordination von Wirtschaftssektoren, die Erfolgshaftung von Unternehmen und die Innovationsanreize des Wettbewerbs nicht mehr als des Teufels. Anfang der 90er Jahre waren die Grünen in der Wirklichkeit der modernen Industriegesellschaft angekommen. Beispielsweise unterscheiden sich ihre Vorschläge zur Verwaltungsreform nur noch in den Punkten Bürgerbeteiligung und Informationsfreiheit, aber nicht in Sachen Kundenorientierung und Qualitätsmanagement von den international erfolgreichen Konzepten des New Public Management.

Wenige Jahre später scheint selbst der für die Parteigründung konstitutive Technikpessimismus überwunden. Nachdem man sich über viele Jahre auf unverantwortliche Anwendungen einfacher Techniken (von der Schädlingsbekämpfung bis zur Kohleverbrennung) sowie den Nach­weis der Gefährlichkeit und Entbehrlichkeit der neuen Hochtechnologien (v.a. im I.u.K.-Bereich) konzentriert hatte, sieht der Koalitionsvertrag einen verantwortungsvoll differenzierten Umgang mit Gentechnologien vor. Mikroelektronik und Computernetzwerke erfreuen sich sogar dezidierter Wertschätzung. Als einzige erfährt noch die Nukleartechnologie eine bedingungslose Ablehnung. Es liegt nahe, den Grund dafür nicht nur im Gefahrenpotential der existierenden Reaktoren, sondern auch im programmatischen Identitätsbedarf der Grünen zu vermuten. Bei fortschreitender Horizonterweiterung wird man gewiß eines Tages den geringen Einfluß der deutschen Energiepolitik auf die globale Primär­energiestruk­tur bemerken und dem Bedarf an verbesserten Reaktorsicherheitstechnologien auch programmatisch Rechnung tragen.

Empfindlich geschwächt und im Begriff, ganz zu entschwinden, ist der Mythos unbedingter Gewaltlosigkeit. Er wurde außerhalb der Partei oft mißverstanden. Unbedingte Pazifisten von der Charakterfestigkeit einer Petra Kelly waren von Anbeginn in der Minderheit. Die ablehnenden Parteitagsbeschlüsse zu friedenserhaltenden und friedenschaffenden Militäreinsätzen verdankten sich keineswegs der naiven Hoffnung auf die Vorbildwirkung neutestamentarischer Nächstenliebe. Immerhin hatte die Mehrzahl ihrer Befürworter einst „Waffen für El Salvador“ gespendet. Verkapptes Motiv der strikten militärischen Enthaltsamkeit war die zur Identitätsformel geronnene Kritik an der Weltmachtrolle der USA und am westlichen Militärbündnis. Selbst noch Anfang März 1999, als das Scheitern des Rambouillet-Abkommens unübersehbar war, stritt der Berliner Altlinke Christian Ströbele (mit anderen) für den Text einer Kosovo-Erklärung, die den Außenminister auf zwei „anti-antiimperialistische“ Essentials verpflichten sollte: (1) den strikten Vorrang des Völkerrechts vor den Menschenrechten und (2) die Alleinzuständigkeit von OSZE und UNO für eine humanitäre Militärintervention. Gewiß steht der Pazifismus auch für die Funktion, welche die Grünen einst für das „moralische Gedächtnis“ des Landes übernommen hatten. Es war ein ehrlicher, aber für Weltanschauungsbedürfnisse instrumentalisierbarer Reflex auf die Rolle Deutschlands in der Geschichte dieses Jahrhunderts. Ohne das aktuell erlebte Elend auf dem Balkan hätte es vermutlich noch mehrjähriger Diskussionen bedurft, bis der tiefsitzende (mit einem aus dem Kalten Krieg stammenden Imperialismusmythos unterlegte) Anti-NATO-Tick überwunden worden wäre. Ob das neuerdings ernüchterte Verhältnis zu Aktionen der gewaltsamen Wahrung der Menschenrechte Bestand haben wird, muß sich allerdings erst noch zeigen. Der NATO-Luftkrieg gegen den serbischen Militärapparat stellt die Abkehr vom „Augen-zu“-Pazifismus auf eine harte Probe.

Solange politische Mythen Orientierung geben, pflegen die Gläubigen sie lauthals als unumstößliche Wahrheiten zu verkünden. Ihr Verschwinden vollzieht sich dagegen lautlos; eine ausdrückliche Verabschiedung würde als schmerzhafter Identitätsbruch empfunden. Dafür gibt es in der jüngeren Parteigeschichte zwei Beispiele. Bereits Ende der 80er Jahre war der Mythos, die neuen sozialen Bewegungen seien die eigentliche Basis und verläßliche Dauerressource der Grünen, erodiert. Die mit dem Einzug in den Bundestag rapide gewachsene fachpolitische Kompetenz entwertete den Kontakt zu lokalen Initiativen und zu den auf Schulklassengröße geschrumpften Resten bundesweiter Bewegungen. Sie hatten entweder selbst institutionellen Charakter angenommen oder jeden Wert als Informations- und Motivationsquelle verloren. Am Ende der 90er Jahre profitieren allein noch die Oppositionsparteien vom Mobilisierungsvorteil des Nein-Sagens. Das belegen die CDU-Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, die Demonstration von 35.000 Arbeitnehmern gegen den Atomausstieg (am 9.3.1999) und Lokalereignisse wie die Protestversammlung von 1.000 Bürgern am Bombenabwurfplatz Wittstock (wo man die Fortsetzung der Bombardements verlangte; vgl. Neues Deutschland vom 8.3.1999). Wer will, mag hierin durchaus ein Spiegelbild der Veralltäglichung „grüner“ Politikformen.

Ebenfalls geräuschlos entschwunden ist die einst so mobilisierende emphatische Wachstumskritik. Nachdem die Politikwissenschaft den positiven Zusammenhang von Demokratie- und Wirtschaftsentwicklung bestätigt hat (Lipset 1994) und Entwicklungsländer wie Nichtregierungsorganisationen die Wachstumsrate des Sozialprodukts als wichtigsten Indikator von Entwicklungs

chancen betrachten, scheint der pauschalen „quantitativen“ Wachstumskritik der Boden entzogen. Zur Entkrampfung des Verhältnisses von Umwelt- und Wirtschaftspolitik hat auch das Scheitern der allzu pessimistischen Prognosen einer Energie- und Rohstoffverknappung geführt. Am Ende des 20. Jahrhunderts stellt nicht die Verknappung, sondern der Preisverfall von Grund­stoffen und Energieträgern ein globales Entwicklungsproblem dar. Die Grünen fanden zu einem Kurs, der technologiekritische Argumente („was nicht wachsen darf“) mit größerer Offenheit für wissenschaftliche und industrielle Innovationen („was gefördert werden soll“) verbindet. Die einst von einer pastoralen Sozialwissenschaft artikulierte Zivilisationskritik erweist sich mehr und mehr als (vorübergehen­der) Generationenaffekt. Auch die aus der Gründungszeit der Grünen stammende Verbindung von positiver Naturmystik und negativer Politischer Ökonomie ist zerbrochen. Emphatische Zivilisations- und Wachstumskritik sind in die Weltferne eines Dachgeschosses der Berliner Nobeladresse ‘Hackesche Höfe’ entfleucht, wo sie vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung zur Ausschmückung moralphilosophischer Übungen eingesetzt werden. Wenn demnächst positive Wachstumsraten als Indikator der Gesundung vom Deflationsbazillus Geltung erlangt haben, dürften die Fluchtburgen grünen Vor- und Nachdenkertums nicht unberührt bleiben.

Alles in allem können die heutigen Grünen als eine ausgesprochen mythenarme politische Kraft gelten, die sich eher durch eine Unterbilanz als einen Überbestand an „letzten“ Wahrheiten auszeichnet. Sie setzt sich vorteilhaft von Wettbewerbern ab, denen ein Festhalten an mobilisierungstechnisch bewährten, aber intellektuell desavouierten Grundannahmen zu attestieren ist: Das christliche Parteienduo schwört nach wie vor auf die Vereinbarkeit konservativ-familialer Werte und eines amoralisch-individualistischen Ökonomismus, um damit regelmäßig an den Reibungsflächen der „kulturellen Widersprüche des Kapitalismus“ (Daniel Bell) aufzulaufen. Die deutsche Sozialdemokratie setzt selbst noch unter den Bedingungen der Globalökonomie auf die Vereinbarkeit der Interessendefinitionen des 19. Jahrhunderts mit den Sozialinstitutionen der Nachkriegszeit. Ganz zu schweigen vom begeisterten Marktliberalismus der Freidemokraten und der nicht minder emphatischen Anti-Markt-Orientierung der deutschen Postkommunisten. Der Mythenvorwurf trifft also die Grünen weitaus weniger als erwartet.

(2) Die Permanenz der Strukturkrise

Die These einer akuten Strukturkrise ist solider begründet als der Vorwurf irrationaler Orientierungen. Der besseren Übersicht halber werden die einschlägigen Argumente der Reihe nach auf die formalen und die informellen Parteistrukturen bezogen.

Was ihre formale Struktur angeht, sind die Grünen alles andere als mißverstanden, wenn man sie als eine quasi-föderalistische und nur schwach zentralisierte Organisation versteht. Das hängt mit dem individuellen Entwicklungs- und Parlamentarisierungsschicksal der Landesverbände zusammen, die sich intern nach unterschiedlich erfolgreichen Kreisverbände strukturieren. Mißt man den Grad formaler Entscheidungsmacht an der Wahrscheinlichkeit, daß formal korrekte Entscheidungen intentionsgerecht umgesetzt werden, so ist ein Gefälle von der Kreisverbands- über die Landes- zur Bundesebene zu bemerken. Die Bundesebene kann der Landesebene und beide können der Kreisverbandebene keine bindenden Verpflichtungen auferlegen. Abgesehen vom Beitragseinzug, dessen Effektivität aber allein die Kreisebene kontrolliert, machen die höheren Steuerungsebenen den unteren lediglich Angebote der parteiinternen Koordination und Kom­munikation sowie des öffentlichen Auftretens, die genutzt oder ausgeschlagen werden können.

Die parteiinterne Wirkung des Bundesvorstandes ist gering. Seine Koordinationsfähigkeit erfuhr zwar eine Aufwertung, nachdem man sich 1994 zur regelmäßigen Kommunikation mit der Bundestagsfraktion bereit fand (an der es zu Zeiten der ersten BT-Fraktion gänzlich und bei der zweiten erheblich mangelte). Aber die interne Verhandlungsposition der Parteispitze (der sog. SprecherInnen) beruht in erster Linie auf der Kompetenz für den Umgang mit der Medienöffentlichkeit. Über die öffentlichen Medien verläuft der wichtigste Kommunikationskanal zwischen Parteiführung und Parteimitgliedschaft. Derselbe Kanal sichert auch ihr Gewicht in der Parlamentsfraktion, der sie selbst nicht angehören dürfen. Diese öffentlichkeitsvermittelte Kommunikationsschleife bringt die grüne Basis in Krisenzeiten in eine paradoxe Lage: Vom Zustand der Partei und dem, was die führenden Repräsentanten meinen und empfehlen, erfahren sie zuerst und am genauesten aus der Zeitung und am Fernseher. Die parteiinternen Rundbriefe und Mitgliederzeitungen gelangen erst viel später und mit nur wenig prägnanten Informationen in die Hände der Mitglieder. Deshalb wundert es nicht, wenn sich ambitionierte Vorstandsmitglieder auf Medienkontakte und Top-level-Kommunikation konzentrieren. Eine andere Konsequenz: Grüne Krisen finden nicht im Verborgenen statt; sie sind immer öffentlich und ihre Austragung gewinnt - wegen der Medienpräsenz der Führung - regelmäßig den Anschein eines Angriffs der „Promis“ auf die fleißigen Parteiarbeiter „an der Basis“. Neue Organisations- und Politikideen erwecken darum zwangsläufig den Eindruck, nicht für, sondern „gegen“ die Partei erdacht zu sein.

Doch wie bei keiner anderen Partei, konnten die Aktivisten der unteren Ebenen lange Zeit das Erscheinungsbild der Grünen bestimmen. Ihr Medium waren die Bundesparteitage, die über Gremienzusammensetzung und Programmprioritäten entschieden. Noch bis Mitte der 90er Jahre galten die Parteitagsbeschlüsse als hochgradig unsicher. Daß sie an Berechenbarkeit gewonnen haben, verdankt sich zum einen dem Burgfrieden, den „Realos“ und „Linke“ vor der Bundestagswahl 1994 verabredeten und 1998 bekräftigten. Zum anderen gibt es inzwischen eine leidlich effektive Querkoordination zwischen Partei- und Fraktionsvorstand, die der neugeschaffene Parteirat allenfalls flankieren, aber kaum kontrollieren kann. Dank der durch Koordinationserfolge bewirkten innerparteilichen Machtverschiebung fungieren die Parteitage mehr und mehr als Schau­bühne für exponierte Vertreter des Burgfriedens und Forum der Beifallssuche von Vorstands- und Kabinettsmitgliedern. Von der formalen Struktur am weitesten entkoppelt wirken die Europaabgeordneten, deren Mandate nicht selten wie Gratifikationen oder Lehen vergeben werden.

Die informelle Struktur war vor dem „Burgfrieden“ durch die Konkurrenz der „linken“ und der „Realo“-Strömung bestimmt. Außerhalb dieser Lager gab es keine Chance, Einfluß auf die Partei zu gewinnen. Zwar konnte die frühere Bundesgeschäftsführerin Heide Rühle eine Position zwischen den Strömungen beziehen, aber nur um den Preis, daß sie sich aufs Organisatorische beschränkte. Als Joschka Fischer auf dem Erfurter Parteitag den Burgfrieden mit den „Linken“ auf­kündigte, konnte er sich darauf berufen, daß die zur gleichrangigen Partizipation von Frauen geschaffenen Doppelposten (im Partei- und Fraktionsvorstand) längst Bastionen der Strömungslager geworden waren. Der interne Koordinationsaufwand wird durch die Doppelspitzen erheblich erhöht. Da er in manchen Fällen gar nicht erst erbracht wird, kam die Doppelspitze in den Ruf eines selbstauferlegten Blockademechanismus (mehr dazu im Abschnitt 6).

Zur Einschätzung der informellen Struktur ist noch zweierlei festzuhalten. „Linke“ und „Realos“ unterscheiden sich vielleicht noch in Teilen ihrer Grundüberzeugungen, aber kaum mehr in ihren policy-Präferenzen. Spätestens 1990 als der Führungskreis der Grünen von Persönlichkeiten aus der ostdeutschen Bürgerbewegung (vorübergehend) aufgemischt und (anhaltend) irritiert worden ist, wurden sich die Repräsentanten beider Lager ihrer nicht unerheblichen Gemeinsamkeiten als „gelernte“ Bundesbürger bewußt. Zur Annäherung der Positionen half auch die Ungleichzeitigkeit individueller Lernprozesse. Die heutige Politikfähigkeit der sich lange Zeit gesinnungs­ethisch gebährdenden „Linken“ geht teilweise auf Übernahmen der zunächst von „Realos“ vertretenen Politikoptionen zurück. Andersherum betrachtet: Während heute die „Lin­ken“ dazu neigen, sich Regierungspolitik als Abarbeiten des realpolitischen Reformkatalogs der 80er Jahre vorzustellen, haben besonders avancierte „Realos“ bereits begonnen, die politische Agenda für das nächste Jahrzehnt - unter Einbeziehung jüngerer angelsächsischer Erfahrungen - zu entwickeln (dazu mehr am Ende).

Worauf gründet sich der immer wieder hervortretende Gegensatz von „Linken“ und „Realos“, wenn sich doch ihre inhaltlichen Positionen angenähert haben? Diese Frage zielt auf den Kern des „grünen“ Integrationsprinzips. Die Antwort ist ebenso trivial wie beunruhigend: Während die Formalstruktur der Partei ihr Überleben als Organisationskörper, grob vereinfacht: als Beitragskassier- und Wahlkampforganisationsmaschine, gewährleistet, werden das politische Profil und die Kollektividentität der Partei von ihrer Clan-Struktur bestimmt. Die Clans entstanden, als es galt, die durch die Strömungskonkurrenz gesteigerte Unsicherheit bei der Vergabe von Parteiämtern und Listenplätzen zu meistern. Die Clans waren entlang wechselnder, aber identitätswichtiger Konfliktlinien organisiert, die den Streit über „Inhalte“ beflügelten. Die „Inhalte“ funktionierten als Eingangstrichter; hier wurden und werden die Neulinge von den Aktiven aufgelesen und der „inhaltlichen“ Arbeit, sprich: den Clans, zugeführt.

So paradox es klingt: Dank der Clans ließen sich bescheidene Erfolge einer Verjüngung der Partei erzielen, was allerdings den Nebeneffekt einer Konservierung der inhaltlich obsoleten Konfliktlinien aus den 80er Jahren hatte. Weil der Parteinachwuchs nur durch Clan-Anschluß eine Mitwirkungschance erhält, konnten sich die alten Lager im bescheidenen Maße erneuern, was den „Linken“ um einiges besser als den notorisch unterorganisierten „Realos“ gelang. Im Idealfall lehren beide Clans ihrem Nachwuchs, warum man den Angehörigen des anderen Clans mit Argwohn zu begegnen hat, im eigenen Dunstkreis jedoch Vertrauen genießt und auf Reziprozität bauen darf. Dienten die Clans zunächst der Verkoppelung von „Personen“ und „Inhalten“, so traten die „Inhalte“ allmählich in den Hintergrund; heute wird v.a. der Zusammenhang von Personen vermittelt. Dabei fungiert die Clan-Struktur weiter als Mittel der Unsicherheitsbewältigung; unabhängige Kandidaturen gelingen nur im seltenen Ausnahmefall. Das Verhältnis der Clans zueinander wird als “Gefangenen­dilemma“ erlebt. Würde sich einer von ihnen - etwa um dem grünen „Gesamtinteresse“ zu dienen - gänzlich auflösen, bliebe der andere unangefochtener Sieger - und könnte dennoch wenig Nachsicht gegenüber den Ungebundenen zeigen, weil das die Chancen der „eigenen“ Leute schmälerte. Die Clan-Struktur könnte allein dann verschwinden, wenn ihre Leistungen auf andere Koordinationsformen übergingen, die nicht nur rationaler, sondern mindestens ebenso effektiv zu sein versprechen.

Aber sollten die Clans überhaupt verschwinden? Darauf geben die beiden dominanten Clans unterschiedliche Antworten. Solange unter den „Linken“ gesinnungsethische, d.h. mit hohen emotionalen Selbstbelohnungen verknüpfte Identitätskonzepte überwiegen, muß ihnen der Wechsel zu einer anderen Koordinationsform als Verlust erscheinen. Mehr Wettbewerb und Formalisierung auf Kosten des Gemeinschaftsgefühls, das die Clans bieten, könnte eher die ideologisch weniger belasteten Verantwortungsethiker der „Realos“ reizen. Im Umkreis des Realo-Clans (samt der in ihm aufgegangenen „Aufbruch“-Gruppe) finden sich mehr Gegner der „Strömungskultur“ als unter den „Linken“. Dennoch macht der Vorschlag wenig Sinn, die Clans zur Disposition zu stellen, um die Partei von den Ruinen ihrer einstigen Gesinnungspfeiler zu befreien und innovationsfähiger zu machen. Zweckmäßiger wäre es, die „Realos“ würden einerseits versuchen, das „linke“ Niveau an Integrations- und Koordinationsleistungen einzuholen, und andererseits für eine Extensivierung der lagerübergreifenden Politikdebatten sorgen.

(3) Das politische Personal - ein Krisenfaktor?

Nicht zufällig tauchte diese These im Zusammenhang des Jahreszahljubiläums „1968“ auf. Unterstellt ist, daß die Bündnisgrünen Überbleibsel der Studentenrebellion und als solche an die Erfahrungen und Ideen einer historischen Generation gebunden sind. Folglich sei davon auszugehen, daß sie mit dieser Generation und ihrer besonderer Weltauffassung auch wieder verschwinden werden. In einer anderen, v.a. in Ostdeutschland verbreiteten Variante wird der „altgrüne“ Themenkatalog mit der Jahreszahl „68“ identifiziert und für zeitbedingt, d.h. revisionsbedürftig erklärt. Während die erstgenannte Aufassung immerhin eine wichtige Erfahrungsquelle anspricht, zu der ein nicht unerheblicher Teil der Parteigründer Zugang hatte (ohne durch diese Erfahrungen determiniert zu sein), ist die andere Variante schlicht falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Die Gründung der Grünen war eine Abkehr von den kritischen Utopien der „68er“ Studentenrebellion, deren Themenkreis vom Vietnamkrieg, dem nationalsozialistischen Erbe und der Illiberalität konservativer Normalitätskonzepte geprägt war, bevor die studentischen K-Parteien für die Renaissance von Marxismus-Leninismus und krudem Proletkult sorgten. Daß enttäuschte Mitglieder der K-Parteien in den Grünen die Chance erblickten, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, charakterisiert weniger den neuen Kollektivakteur ‘Grüne’ als vielmehr dessen Schwierigkeit, frühzeitig das eigene Profil zu schärfen. Soweit „68“ noch in „grünen“ Biographien präsent ist (was i.d.R. nicht auf Teilnahme , sondern Rezeptionserfahrungen beruht), haben die Akteure eine mehr oder weniger intensive Konversion durchgemacht; wer sich ihr zu entziehen suchte, hat die Partei verlassen. Die in den langen Jahren der Oppositionszeit ausgetragenen Konflikte zwischen verschiedenen Spielarten linker und emanzipatorischer Weltanschaungen haben nicht nur Narben hinterlassen, sondern auch zu Ansätzen einer kollektiven Identität geführt, welche die Grünen gut und gerne als ihr politisches Kapital veranschlagen dürfen (Wiesen­thal 1993: ch. 9).

Wenn es also nicht historische Erfahrungen und obsolete Orientierungen sind, durch welche die Personen selbst zur Krisenursache werden, was bleibt dann? Unterscheiden sich die Mitglieder der Grünen etwa in sozialstruktureller Hinsicht vom politischen Personal anderer Parteien? Das ist nicht sehr wahrscheinlich, wenn selbst eine Parteikarriere bei der SPD kein Hinderungsgrund (mehr) ist, an die Spitze der Grünen zu gelangen. Dennoch weichen die Grünen in einer Hinsicht von den anderen Parteien ab, die sie anfällig für „personenbedingte“ Strukturprobleme macht. Die Grünen entstanden in einer Ära der Massenarbeitslosigkeit, wie sie Deutschland seit der Weimarer Republik nicht mehr gekannt hat. Dabei ist ihr Aufstieg durch eine wachsende Zahl von Parlamentsmandaten und den Zugang zu relativ ergiebigen Finanzquellen markiert; die Personalausgaben der Gesamtpartei beliefen sich 1998 auf immerhin 15 Mio. DM. Damit wurde die Mitarbeit in den Grünen zu einer annehmbaren Option für Personen, die Arbeit, Einkommen und Lebenssinn suchen. Die Konsolidierung der Partei als politische Kraft manifestierte sich zwangs­läufig in einer Vielzahl persönlicher Biographien, in deren Zentrum die Partei und ein je spezifisches Verständnis ihrer Aufgaben und Gratifikationen stehen. Auch das ist eine Besonderheit der Grünen: Der Anteil von Aktiven und Mandatierten, die in und durch die Grünen ihren ersten Kontakt zur Lebenswirklichkeit jenseits von Elternhaus, Schule und Universität gewonnen haben, dürfte höher als anderswo sein. Entsprechend stark werden die im Einzelfall erfahrenen Sozialisationswirkungen ausgefallen sein, die in den 80er Jahren durch die Einübung in den innerparteilichen Strategiekonflikt (Opposition, Tolerierung oder Koalition?) geprägt waren.

In einer Studie über die Innenwelt ökologischer Parteien unterscheidet Herbert Kitschelt (1989) zwischen drei Gruppen von Aktiven: den Ideologen, den Lobbyisten und den Pragmatikern. Während die „Ideologen“ politische Strategien strikt „binnenorientiert“ diskutieren und ihre Identität auf „inhaltliche“ Ziele gründen, pflegen die „Pragmatiker“ eine nach außen gerichtete Perspektive, stellen auf Erfolge im Parteienwettbewerb und den Einfluß auf das politische System ab. Die „Lob­byisten“ streben selektiven Nutzen zugunsten ihrer Klientel an und verbünden sich dafür mit den einen oder den anderen. Der Kurs der Partei bestimmt sich in erster Linie nach dem Kräfteverhältnis zwischen „Ideologen“ und „Pragmatikern“. Eine Balance der gegenseitigen Tolerierung stellt sich in der Weise ein, daß den Ideologen das Parteileben überlassen bleibt und sie die Organisation als Spielwiese für soziale Experimente verwenden dürfen, während den Pragmatikern die Außenkontakte und damit die Erhaltung und der Ausbau der Existenzgrundlagen überantwortet sind.

Das Kitschelt-Modell erklärt zweierlei: zum einen das Überleben jener Binnenkultur, welche viele Jahre die Atmosphäre grüner Parteitage bestimmte. Sie waren ein Jahrmarkt grüner Eitelkeiten, die sich abwechselnd in Harmoniebekundungen, Gegnerverteufelung und Identitätserklärungen ausdrückten, aber wenig Raum ließen zur nüchternen Behandlung aktueller Themen aus der gesellschaftlichen Umwelt (vgl. Raschke 1991a). Zum anderen wird deutlich, daß die Grünen ihr erstes Jahrzehnt als ein „multiples Selbst“ bewältigten, das im Interesse des Überlebens der Versuchung widerstand, sich eine einzige (Ausgrenzungen erzwingende) Identität zuzulegen. Der dafür zu entrichtende Preis hieß, die Parteitage und alle anderen Gremien für Übungen der individuellen Selbstverwirklichung freizugeben. Was in der Halböffentlichkeit grüner Gremien geschah, zielte auf Anerkennung im eigenen Clan und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Parteiorgane als semi-privaten Lebensraum zu instrumentalisieren statt sie als Foren der politischen Willensbildung zu behandeln, hat noch heute den Anschein der Legitimität.

Gemäß den Vorhersagen des Modells müssen Konflikte aufbrechen, wenn die Pragmatiker den Parteibetrieb ernster zu nehmen beginnen und effizientere Strukturen und realistischere Programme verlangen oder wenn die „Ide­ologen“ nach außen drängen und ihre Innenansichten in den Parteienwettbewerb einspeisen lassen. Beide Bewegungen haben sich seit Anfang der 90er Jahre verstärkt. Ob die gegenläufigen Prozesse von binnenorientierten Ideologen oder außenorientierten Pragmatikern dominiert sind, hängt vom Verhalten der „Lobbyisten“ ab. Ihre Unterstützung läßt sich „erkaufen“. Die auf Landesebene von den Grünen gebildeten Koalitionsregierungen konnten regelmäßig bescheidene Ansprüche der grünen Lobbyisten (z.B. in Sachen Alternativökonomie und Minderheitenförderung) befriedigen. Das scheint in der Bundespolitik anders. Unmittelbar klientelwirksame Gratifikationen sind rar. Und für die Austeritätspolitik, die finanz- und wirtschaftspolitisch angesagt ist, erweist sich ein Bündnis zwischen Pragmatikern und Lobbyisten als denkbar ungeeignet. Unter solchen Umständen wird den Pragmatikern die Untreue der Lobbyisten zur Achillesferse.

Akzeptiert man dieses Modell der Konfliktanalyse, so ist es naheliegend, die Handlungsfähigkeit der Organisation durch Verminderung der internen Vetopositionen zu erhöhen, d.h. einerseits für eine verschlankte Organisation (mit weniger Gremien und Sitzen) einzutreten, andererseits für den komplementären Ausbau der Schnittstellen zur Außenwelt zu sorgen. Doch dieses Patentrezept ist wenig realistisch. Die als entbehrlich eingeschätzten Gremien werden gewiß nicht ihre Abschaffung beschließen. Das dokumentierte letzthin der Leipziger Parteitag, der den neugeschaffenen Parteirat mit mehr Sitzen ausstattete als der Bundesvorstand gewünscht hatte: Die Partei wächst noch immer nach innen. Besser ginge man den umgekehrten Weg und ließe eine Vielzahl von „grünen“ Gesandten bei allen Vereinen und Verbänden der Republik akkreditieren. Jede Form der Vertiefung von Außenerfahrungen und der Konfrontation mit konkurrierenden Orientierungen enthält die Chance, die unglückliche Arbeitsteilung zwischen Ideologen und Pragmatikern zu überwinden. Von heute auf morgen lassen sich die in den Personen liegenden Krisenfaktoren jedoch nicht neutralisieren. Sie sind auch nicht die einzigen.

Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Entgegen einer verbreiteten Auffassung sind die Grünen nicht durch einen Überschuß an Mythen gehindert, Fortschritte in Sachen Selbstkontrolle und Steuerungsfähigkeit zu machen. Im Gegenteil, hier scheinen sogar ungenutzte Potentiale zu liegen. Dagegen sind einige Strukturmerkmale durchaus als Krisengenerator zu veranschlagen. Weil die Thematisierung von Organisationsproblemen auf die Öffentlichkeit als Kommunikationsraum angewiesen ist, läuft sie Gefahr, als Ausrufung der Krise mißverstanden zu werden; die darauf folgende Krisenwahrnehmung macht die Krise real. Krisenkommunikation unterliegt dem Prinzip der positiven Rückkoppelung und bewirkt eine Krisenverschärfung. Ergo: Die erfolgreiche Bearbeitung von Krisen erfordert ihre Leugnung. Soweit Personen als Krisenfaktor in Betracht kommen, wäre es wünschenswert, die Zahl der Vorstandssitze und internen Vetopositionen zu verringern und gleichzeitig die Zahl der mit Außenerfahrungen verbundenen Positionen zu steigern, d.h. mehr Abgeordnetenmandate zu erringen. Das setzt eine Erfolgskurve voraus, deren Voraussetzungen noch unklar sind.

Vor dem Hintergrund der „eingebauten“ Krisentendenz erscheint die Diskrepanz zwischen realer Krisengefahr und leichtsinnigem Optimismus als ein Ausnahmefall. Den Grünen einzureden, sie befänden sich, ohne es bemerkt zu haben, in einer Krise, vermag nur wenig zur Besserung des Zustandes beizutragen. Da sich Krisendiskurse zu verselbständigen und von den realen Problemen abzulösen drohen, bleiben seine strukturellen Ursachen intakt. Für Konsolidierungsfortschritte bedarf es „echter“ Innovationen. Diese werden zur Zeit auf zwei Ebenen thematisiert: zum einen hinsichtlich der Frage, wie sich die offenkundigen Fehler beim Gebrauch der Regierungsmacht vermeiden lassen, zum anderen im Hinblick auf ein verändertes Selbstverständnis der Grünen und neue „Inhalte“ ihrer Politik.

 

4. Vom rot-grünen Fehlstart zu „Schröders zweiter Chance“

Die Bilanz der ersten 100 Tage hat den grünen Ministern differenzierte Noten eingebracht: dem Außenminister, der zwar keinen Krieg verhindert, aber auch keinen angezettelt hat, ein „Aus­gezeichnet“, der Gesundheitsministerin, die den Stellungskrieg mit Ärzteschaft und Gesundheitsindustrie aufnahm, ein glattes „Gut“ und dem Umweltminister, der den „grünen“ Teil des Koalitionsvertrages zu realisieren beanspruchte, aber einen ominösen „Konsenskonflikt“ vom Zaun brach, ein schwaches „Ausreichend“. Ob man nun Jürgen Trittin gern als Schwiegersohn hätte oder lieber nicht, seine Regierungsarbeit der ersten 100 Tage verdient ein abgewogeneres Urteil als ihm die Mehrzahl der Kommentatoren zuteil werden ließ. Während sich Joschka Fischer eindrücklich um die Demonstration außenpolitischer Kontinuität bemühte und Andrea Fischer die (nicht durchweg plausiblen) Wahlversprechen der SPD einlöste, in der Politikplanung aber auch an Vorarbeiten des Amtsvorgängers anknüpfen konnte, hatte Trittin ausdrücklich den Auftrag, für einen Kontinuitätsbruch zu sorgen. Den Atomausstieg auf die lange Bank zu schieben, schien weder in der Sache noch in der öffentlichen Akzeptanz einen Vorteil zu bringen. Aber für die tiefgreifende Umstrukturierung eines so prominenten Industriezweigs wie den der Energieindustrie gab es weder Vorbilder noch Präzedenzfälle.

Was immer Jürgen Trittin an Ungeschick bei der öffentlichen Thematisierung und der Verhandlungsvorbereitung angelastet wird, das reklamierte Defizit ist weitaus problematischer als ein durch Besserungsabsicht heilbarer persönlicher Fehler. Die Implosion des Themas Energiewende symbolisiert die mangelnde Vorbereitung der Grünen auf praktisches Regierungshandeln; der Umgang des Kanzlers mit dem Debakel belegt das Verantwortungsdefizit nicht nur des Kabinetts, sondern der ganzen Führungsgruppe der SPD. Schröder hatte sich im Wahlkampf als Initiator präsentiert, sich aber im Kabinett auf die Rolle des Moderators zurückgenommen, ohne für eine andere Besetzung der Leerstelle Sorge zu tragen. Durch den Verzicht auf Öffentlichkeitsarbeit (z.B. mit alternativen Energieeinsatz- und Risikenszenarien) und Ressortkoordination erlangte der Atomausstieg den Anschein eines leichtfertig geplanten und von durchgeknallten Partikularinteressen inspirierten Projekts, das die SPD den Grünen in einem Anfall von unverantwortlicher Großzügigkeit zugestanden hatte. Statt zum erfolgversprechenden Einstieg in den Ausstieg wurde das Unternehmen ein verunglückter Solotanz. Anders als beim unsäglichen Ausnahmekatalog der sog. Ökosteuer gewann man den Eindruck, daß das Scheitern weniger durch die Interventionen von Lobby und Adressaten als vielmehr durch Fehler bei der Politikentwicklung und  koordination verursacht wurde. Fällt der Ausstieg demnächst von der Tagesordnung, dann gewiß nicht, weil Sinn und Zweck einer umweltorientierten Energiepolitik heute nicht mehr verstanden würden, sondern weil die Vorgehensweise vom Start weg den Keim späterer Reue in sich trug.

Die flinke Personalisierung des Mißerfolgs ist ein Selbstbetrug der Regierung und vor allem der Grünen. Es ist nicht angebracht, dem Minister mehr als ein Zuviel an zynismusverbrämten Kunstfehlern anzulasten. Alles andere geht auf das Konto der Gesamtpartei, d.h. ihres Verzichts auf professionelle Politikvorbereitung. Gewiß symbolisiert der mißlungene Einstieg in die regulative Industriepolitik auch den miserablen Vorbereitungsstand der ganzen Regierung. Das Abtauchen Riesters, des Kanzlers Attentismus und v.a. das Scheitern Lafontaines bezeugen, wie wenig man sich für die Regierungsübernahme gewappnet hatte. Aber das Schwergewicht der Kritik trifft die Grünen, die stets lauthals vorgaben, Spezialisten für die Reform der Industriegesellschaft zu sein und sich im Herbst 1998 als Fabrikanten einer „neuen Republik“ anpriesen. Nun scheint es, als sei eine Generation in den politischen Wind getreten, die sich den doppelten Luxus geleistet hat, ihre Vorgänger nur an sichtbaren Taten und hörbaren Verlautbarungen zu messen, während man selbst glaubte, auf die Erkenntnisse und überwiegend zu Druckerschwärze gewordenen Befunde der professionellen Politikbeobachtung und  forschung verzichten zu können. Zumindest in der Energiepolitik und der Finanzpolitik ähnelte die Regierungsübernahme von Rot-Grün dem Amtsantritt einer Militärregierung, die bei der Vorbereitung des Putsches keine Zeit fand, Erkundigungen über die Gesellschaft einzuholen, an deren Spitze sie sich setzte.

Worum es geht, wurde 1993 mit etwa den folgenden Worten umrissen:

„Die Frage nach den Voraussetzungen einer Regierungsbeteiligung ist weder mit der Herstellung ‘passender’ Mehrheitsverhältnisse noch mit der erklärten Koalitionsbereitschaft von Parteigremien und Ministerkandidaten ausreichend beantwortet. Eine weitere Bedingung für die erfolgreiche Teilhabe an der Regierungsmacht ist die Vertrautheit mit Modus und Mitteln jenes Typs von politischer Steuerung, der sich in der post-keyne­sianischen Ära herausgebildet hat. Die Voraussetzungen einer an intendierten Wirkungen orientierten Reformpolitik haben sich in den vergangenen 25 Jahren gründlich verändert. Konnten die Sozialdemokraten noch bei ihrem Ausbau der politischen Planung auf die Idee des ‘starken’ Interventionsstaats bauen, so sind Regierungsstil und Regierungsaufgaben in heutiger Sicht aus der entgegengesetzten Perspektive einer sich in weiten Bereichen selbstregulierenden Gesellschaft zu beschreiben. Die Vorstellung eines die Gesellschaft von zentraler Stelle aus steuernden Staates hat der Einsicht Platz gemacht, daß die nach eigensinniger Logik verfahrenden Funktionssysteme von autoritär daherkommender Politik allenfalls irritiert, aber kaum mehr kontrolliert werden können. Gleichzeitig ist die staatliche Politik von den Leistungen der gesellschaftlichen Teilsysteme (der Wirtschaft, des Rechts, der Bildung, der sozialen Sicherheit usw.) - genau gesagt: vom autonomen Regulierungsvermögen der Tarifpartner, der Wirtschafts- und Berufsverbände, der Universitäten und Schulen - empfindlich abhängig.

„Diese Veränderungen bedingen einen gestiegenen Konsultations- und Abstimmungsbedarf der Politik. In dieselbe Richtung gesteigerter Sensibilität für Abhängigkeiten, Nebenfolgen und Rückwirkungen des staatlichen Handelns wirkt die Globalisierung ökonomischer Zusammenhänge, vor allem die Einbettung der Volkswirtschaft in den internationalen Kapitalmarkt. Angesichts des Autonomieverlustes und unerfüllbarer Voraussetzungen der hierarchischen Steuerung bleibt der Rückweg in den ‘starken Staat’ versperrt. Ob man es begrüßt oder bedauert, der Staat ist nicht mehr die ‘zentrale Steuerungsstelle, sondern Mitspieler in einem Netzwerk von Handelnden’; um aktiv zu gestalten, muß er in die Rolle eines ‘Moderators der laufenden Prozesse’ schlüpfen (Fürst 1987). Auch die etablierte Politikwissenschaft hat begonnen, sich vom klassischen Verständnis des integrierten Interventionsstaats zu lösen und - unter Stichworten wie Selbstregulierung, Kontextsteuerung und Politiknetzwerke - die Funktionsweise der auf Tausch und Kommunikation beruhenden Steuerungsmodi auszuloten.

„Eine neue Ära von Reformpolitik ist damit keineswegs ausgeschlossen. Ihre Akteure müssen allerdings den veränderten Gegebenheiten Rechnung tragen und dürfen sich nicht auf die Umleitung von Finanzströmen und den Erlaß einer Palette von Ge- und Verboten beschränken wollen. Ihr Hauptaugenmerk muß den faktisch verwendeten Koordinationsverfahren gelten. Ein Gutteil reformpolitischer Praxis wird darin bestehen, in enger Kommunikation mit gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen entweder die Selbstorganisation von Steuerungssystemen anzuregen oder den Konsens über veränderte Steuerungskriterien zu organisieren. Eine neue Reformpolitik ist unter diesen Umständen weder einfach noch harmonisch. Der neue Steuerungsmodus stellt höhere Ansprüche als das traditionelle Politikverständnis an politische Akteure wie die Willensbildung in der Partei, die eine lineare Umsetzung von Programmbeschlüssen erwartet und jede Abweichung als Zielverfehlung zu verbuchen neigt. Vielmehr sind Bereitschaft zur umfassenden Information und zur Akkomodation der eigenen Ansprüche an die relevanter Beteiligter gefordert. Von jeder auftauchenden Schwierigkeit auf den Widerstand gegnerischer Interessen zu schließen, wäre ein fatales Mißverständnis. Sind doch die existierenden Verhandlungssysteme sind nicht nur Foren der Interessenpolitik, sondern auch Ort der Vermittlung zwischen relevanten gesellschaftlichen Teilfunktionen und Teilrationalitäten. Sie zu ignorieren, hieße, die gesellschaftliche Komplexität und Multirationalität zu unterschätzen - und mit systematisch ungeeigneten Interventionen zu scheitern.

„‘Grüne’ Minister, die im Sinne ihres Regierungsprogramms etwas ‘bewegen’ wollen, sind in besonderem Maße zur Konsultation der übrigen Ressorts und zur Koordination ihrer Initiativen genötigt. Im Unterschied zum schlechten Vorbild der bloßen Status-quo-Verwaltung dürfen sie sich nicht in ihren Ressorts einigeln und alle außerhalb derselben gepflegten Vorurteile als gegeben hinnehmen. Konsultation und Koordination schließen Konflikte in der Sache nicht aus, ermöglichen aber ihre Begrenzung und schaffen damit Aussicht auf stabile Lösungen.“ (Nullmeier/ Raschke/ Wiesenthal 1993)
Kurz und bündig: In der modernen hochdifferenzierten Industriegesellschaft bleibt auch staatlichen Akteuren keine Alternative, als ihr Anliegen in der Sprache der Adressaten zu artikulieren und den Begründungszusammenhang sowohl der zu erwartenden „Widerstandshandlungen“ als auch der potentiellen Kooperationsmotive ihrer Partner zu erkunden. Dabei können sich die staatlichen Akteure die Berechenbarkeit, Kom­promißfähigkeit und Kooperationsbereitschaft Dritter nur um den Preis sichern und erhalten, daß sie sich selbst als berechenbar und kompromißfähig präsentieren.

Die reformfreudigeren Mitglieder des ersten Kabinetts Schröder, deren Regulations- und Gesetzesvorhaben die Schlagzeilen der ersten Monate bestimmten, haben aber nicht nur gegen diese Grundregel des Regierens in „vernetzten Systemen“ verstoßen. Um die institutionelle Verfaßtheit der Gesellschaft zu reformieren, sind vorangehende intensive Zweiweg-Kommunikationen zwischen den Akteuren des politischen Systems und der medienvermittelten Öffentlichkeit vonnöten. Die Themen Atomausstieg, Staatsbürgerschaft, geringfügige Beschäftigung und Ökosteuer wurden jedoch von den Ressortverantwortlichen eher nach „Gutsherrenart“ bzw. im Stile der „Erlasse-Politik“ des russischen Präsidenten angepackt. Für eine das öffentliche Problembewußtsein schärfende thematische Vorbereitung gab es nicht die leisesten Anklänge. Vielmehr gebährdeten sich die politisch Verantwortlichen als eine Art „Implementationspolizei“, die sich anschickte, die Paragraphen des Koalitionsvertrages nach technischen Regeln und notfalls auch „gegen gesellschaftlichen Widerstand“ umzusetzen. Nur selten und wenn, dann mit erheblicher Verspätung, wurden die zur Weckung des öffentlichen Problembewußtseins benötigten Informationen - zur Gefährlichkeit der Plutoniumswirtschaft, zur politisch-rechtlichen Diskriminierung von in Deutschland geborenen Kindern, zu den externen Sozialkosten von Minijobs und den strukturellen und finanziellen Fehlentwicklungen im Gesundheitssystem - nachgeschoben. Der Eindruck einer machtpolitischen Selbstüberschätzung war nicht mehr zu korrigieren, das Versäumte nicht mehr gutzumachen.

Noch ist ungewiß, ob die Akteure aus dem Fehlstart gelernt haben. „Gelernt“ hat vermutlich die politisch interessierte Öffentlichkeit. Die Erstauflage der rot-grünen Regierung hat den Bürgerinnen und Bürgern in Erinnerung gerufen, wie wenig die Welt der Politiker mit ihren Lebens , Arbeits- und weiteren Erfahrungs­welten zu tun hat. Die Repräsentanten einer vermeintlich „besse­ren“ Politik verwechselten ihre selbstbezüglichen Insider-Diskurse mit einer gesellschaftlichen Debatte. Wäre es nicht so, dann hätten zumindest die Repräsentanten der Grünen bemerkt, daß die von ihnen in den Koalitionsvertrag eingebrachten Themen formal gesehen die Unterstützung von lediglich einem Fünfzehntel der Wählerstimmen für sich reklamieren können. Außerdem hätten sie, wenn ihnen Reformpolitik wirklich Herzenssache und nicht nur Vehikel der innerparteilichen Karrieresicherung ist, gewahr werden müssen, daß die zur administrativ-technischen „Durchsetzung“ gewählten Themen in einer Prioritätenkonkurrenz mit den in der Gesellschaft debattierten Problemen der Massenarbeitslosigkeit, der Jugendintegration und der institutionellen Modernisierung stehen.

Der Regierungspolitik im Umwelt- und Energiebereich schien noch nicht einmal ein aufgeklärtes politisches Eigeninteresse zu unterliegen. Wäre dieses am Zuge gewesen, so hätte man die politischen Themen nach eigennützigen und allgemeinen Gesichtspunkten gewählt und in der Folge den durch den Regierungswechsel bewirkten besonderen Vermittlungsbedarf „neuer“ Themen bemerkt. Das Gedächtnis der Öffentlichkeit ist ein anderes als das der Politik; die öffentliche Aufmerksamkeit für den Inhalt der Parteiprogramme, der Insider-Debatten und der persönlichen Karrierekalküle ist (glücklicherweise) begrenzt. Auf einem besser bestellten Feld der öffentlichen Aufklärung und Diskussion hätte sich vermeiden lassen, daß der als Reformschub ausgegebene Regierungswechsel Gefahr läuft, zum Anlaß einer neuen Welle der Politikverdrossenheit zu werden. Statt dessen erteilte man unfreiwillig Auskunft, wie gering der Ehrgeiz von Politikern ist, sich im Interesse der Sache über die gröbsten Notwendigkeiten hinaus zu koordinieren und ein Teamverständnis des gemeinsamen „Projekts“ (das, wie wir heute wissen, eine bloße Fiktion war) zu entwickeln. Es ist lediglich dem spektakulären Rücktritt Lafontaines zu verdanken, daß das Scheitern des rot-grünen Projektes nun erst auf den 11. März 1999 und nicht schon auf den Amtsantritt des ersten Kabinetts Schröder datiert wird.

Gewiß zählt nicht alles dessen, was hier moniert wird, zum Kanon sozial- und politikwissenschaftlicher Ausbildungsinhalte an den Universitäten. Andererseits ist 1998 nicht mehr 1968 oder 1980. Selbst noch gegenüber dem Jahr 1993, in dem die oben wiedergegebenen Bemerkungen über post-keynesianische Steuerung publiziert wurden, hat sich die Informationsbasis in Sachen politisches Steuerungswissen spürbar verbreitert. Mehrere Forschungsfelder der internationalen Politikwissenschaft und speziell die Untersuchungen zur governance-Struktur von Wirtschaftssektoren und Politikbereichen liefern Aufschluß über Dynamiken der Interessenpolitik, die voraussehbaren Wirkungen unterschiedlicher Regulationsweisen, die Funktionsbedingungen von Verhandlungssystemen und die möglichen Dilemmata der strategischen Interaktion. (Die Berater der reformambitionierten Minister sollten sich nicht zu eitel dünken, mit einschlägig ausgewiesenen Forschern, etwa am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, in Kontakt zu treten.)

Spätestens beim Rücktritt Oskar Lafontaines dürfte auch dem weniger aufmerksamen Beobachter klar geworden sein, daß die ungünstige Bilanz der ersten Monate nicht nur auf die Ungeübtheit einzelner Minister und ihre anfänglichen Koordinationsprobleme zurückzuführen ist. Auch ist die Enttäuschung über den schlechten Start der neuen Regierung kein bloßer Reflex auf die Unfähigkeit Gerhard Schröders, die vagen Vorstellungen von einer den globalwirtschaftlichen Rahmenbedingungen angepaßten Wirtschafts- und Sozialpolitik zu präzisieren und dem Kabinett sowie der eigenen Partei, ganz zu schweigen von einer größeren Öffentlichkeit, zu vermitteln. Wenn das Kabinett nach dem Ausscheiden Lafontaines einen neuen Start versuchen und die Fehler der ersten Monate vermeiden will, was bei einigen Streitthemen kaum mehr möglich ist, wären zwei schmerzhaft erfahrene Lehren zu berücksichtigen: zum einen das Erfordernis, die Gesellschaft, d.h. die Wähler nicht nur der Regierungsparteien, sondern auch die der Opposition, und die breite, von den Medien veranstaltete Öffentlichkeit nicht nur als Adressaten, sondern im oben beschriebenen Sinne auch als Partner der Politik ernstzunehmen.

Zum zweiten gälte es, das zwar nur von Lafontaine in reiner Form repräsentierte, aber auch von anderen als selbstverständliche Richtschnur behandelte Paradigma einer überholten Politischen Ökonomie zu entsorgen: die Vorstellung, die volkswirtschaftlichen Makrodaten unter Verzicht auf plausible Argumentationen und gleichgültig gegenüber den Reaktionen der Akteure „steu­ern“ zu können. Als „Makroökonom“, der die tatsächlichen Entscheidungskalküle der Investoren, Manager und Arbeitnehmer ignorieren zu können glaubte, weil in seinem Weltbild die wirtschafts- und finanzpolitischen Makrodaten unmittelbar von anderen Makro-Sachverhalten abhängen, war Lafontaine ein epistemologisches Fossil. Sein Scheitern auf den Unwillen anderer Länder zurückzuführen, den Kampf gegen die Windmühlen der internationalen Kapitalmärkte aufzunehmen, ist entschieden zu simpel. Da Lafontaine frühzeitig die Konsequenz aus der Erkenntnis zog, daß ein Teil seiner Probleme beim Haushaltsausgleich und der Erhöhung des Beschäftigungsniveaus von ihm selbst verursacht war, verdient seine Rücktrittsentscheidung persönlichen Respekt. Darüber darf aber nicht vergessen werden, daß mit ihm der Vertreter eines politökonomischen Strukturalismus scheiterte, der sich den Luxus leistet, von den „micro­foun­dations of macro-economics“ (in Anlehnung an Hechter 1983) zu abstrahieren und dem von Paul Krugman gelästerten „pop internationalism“ (Krugman 1997) zu fröhnen. War derartige Ignoranz schon in früheren Jahrzehnten unangebracht, so wurde sie vor dem Hintergrund hochverdichteter globalwirtschaftlicher Interdependenzen zum Indikator sträflicher Inkompetenz. Lafontaine und andere täten gut daran, die Lektüre der „Le Monde diplomatique“ durch ein Abonnement des „Economist“ zu ergänzen.

Angesichts der Möglichkeit eines zweiten Starts von Rot-Grün besteht die unverhoffte, aber empfehlenswerte Gelegenheit zur Annäherung an die Realität. Wenn die Auguren der Regierungsbeobachtung recht behalten, wird Kanzler Schröder künftig nicht nur den Eindruck vermeiden, „Politik gegen die Wirtschaft“ machen zu wollen, sondern sich womöglich zu positiven Anleihen beim Ideenpool von New Labour bereit finden. Damit würde die Entscheidungsproduktion stärker am Beifall des auch von CDU/CSU und FDP umworbenen „median voter“ ausgerichtet. Einige Projekte, die auf dieser Linie Erfolg versprechen, dürften auch für die Bündnisgrünen akzeptabel sein. Bei anderen Projekten werden Differenzen der Werthaltungen und der Verteilungspräferenzen aufbrechen, von denen man beim Abschluß des Koalitionsvertrages noch nichts ahnte. Das Streßpotential des Kabinetts, dem nun kein linker Flügelmann der SPD mehr angehört, kann durchaus steigen.

Für die Grünen nimmt dabei die Versuchung zu, in die Oppositionsrolle zurückzuschlüpfen, d.h. aus den Konflikten in der Regierung zu Konflikten mit der Regierung zu flüchten. Wer immer - mit verständlichen Hintergedanken an die Zukunft seiner politischen Karriere - solche Überlegungen anstellt, er oder sie sollte bedenken, daß Rot-Grün als Reformprojekt schon vor der Korrektur des Regierungskurses in die Bredouille geraten war. Die Frage „Wie weiter?“ stellte sich schon mehrere Wochen vor Lafontaines Rücktritt.

„Schröders zweite Chance“ (Der Spiegel) ist immer noch die erste und vorläufig einzige Chance der Grünen, sich als Regierungspartei auf Bundesebene zu profilieren. Der Rückzug in die Opposition ist keine Alternative, mit welcher die chronische Krisenanfälligkeit der Partei zu kurieren wäre. Umso mehr kommt es auf die Antworten an, welche die Grünen sich heute auf die Frage nach ihrer Funktion als Regierungspartei und dem künftigen Verhältnis von Identität und „Inhalten“ geben. Es geht um Richtung und Ausmaß einer Selbstkorrektur vor dem Hintergrund, daß sich auch die SPD zur einer Neudefinition sozialdemokratischer Regierungspolitik durchringen muß - ein Unterfangen, das sie als Oppositionspartei überfordert hätte.

Das Einschwenken der SPD auf den von Tony Blair abgesteckten „dritten Weg“ war für jeden nüchternen Beobachter der Politischen Ökonomie moderner Industriegesellschaften nur eine Frage der Zeit und des konkreten Anlasses. Allein der Pfad, auf dem sich die deutsche Sozialdemokratie zu einem neuen Selbstverständnis bewegen wird, ist noch nicht in allen Streckenabschnitten festgelegt. Der Sachverhalt, daß Lafontaine nicht nur als Regierungsmitglied, sondern auch als geistiges Oberhaupt der Partei zurücktrat, gibt einen ersten Hinweis auf die Art des eingeschlagenen Weges. Es sieht so aus, als müßte die SPD den Prozeß der intellektuellen Neuschöpfung und institutionenpolitischen Modernisierung noch weniger diskursiv und einvernehmlich absolvieren als ihr britisches Vorbild. Während es die Modernisierer um Tony Blair verstanden, die Neudefinition sozialdemokratischer Politik mit dem Willen zur Erringung der Regierungsmacht zu verbinden, steht der deutlich kleinere Kreis der SPD-Modernisierer vor einer viel schwierigeren Aufgabe: Er muß die Profilrevision gegen den Einwand der SPD-Linken vornehmen, daß, wer im Besitze der Regierungsmacht sei, nicht mehr zu „lernen“ brauche. Da den Modernisierern wenig daran gelegen sein kann, per Oktroy zu steuern und die Verweigerungshaltung der parteiinternen Opposition zu befestigen, werden sie wohl oder übel ihren Anspruch mäßigen müssen.

Der Richtungskonflikt in der SPD wird auch auf die Grünen ausstrahlen. Grüne Spitzenpolitiker, die dazu neigen, die Positition der tendenziell „lernschwachen“ SPD-Linken zu ergreifen, sollten bedenken: Sie würden beitragen, das ohnehin begrenzte, aber unverzichtbare Einflußpotential deutscher Mitte-Links-Regierungen zu mindern. Den Grünen würde dadurch nichts erspart. Nicht nur als (po­tentieller) Regierungspartner der SPD, sondern vor allem, weil es auch im „grünen“ Eigeninteresse um ein adäquates Verständnis der gewandelten Realitäten geht, bleibt ihnen exakt die gleiche Aufgabe einer Neubesinnung - mit einem kleinen Unterschied: Von der weiteren Verzögerung oder gar einem Mißlingen des notwendigen Lernprozesses sind die Grünen ungleich heftiger betroffen als die SPD. Sie müßten sich u.U. für mehrere Legislaturperioden in Klausur begeben.

 

5. Was die Grünen zusammenhält: kollektive Identität?

Was hält die Bündnisgrünen eigentlich zusammen? Welche Grundüberzeugungen, womöglich gar „Grundwerte“ bilden den Kern ihrer Identität als kollektiver Akteur? Rekapituliert man die Rück­wirkungen der oben umrissenen Entmythisierung auf das reale Gewicht der selbstverliehenen Prädikate „ökologisch, sozial, gewaltfrei und basisdemokratisch“, so haben die beiden letztgenannten längst ihre einstige Orientierungswirkung verloren. Das gesinnungsethische Prinzip der Gewaltfreiheit wurde in einer Serie ungewöhnlich ernsthafter Debatten über friedenstiftende Militäreinsätze auf den Prüfstand gestellt und als Modalkategorie politischen Handelns aufgegeben: Zur Abwehr von Gewalt darf Gewalt angewendet werden. Etliche Jahre zuvor hatte man schon den Leitwert der Basisdemokratie den Effektivitätserwartungen der Basis und dem Effizienzbedürfnis des Führungspersonals geopfert. „Sozial“ und „ökologisch“ sind die Grünen geblieben. Doch reichen diese Prädikate nicht hin, den ideellen Zusammenhang der Bündnisgrünen zu definieren, auch dann nicht, wenn man sie um Werte zweiter Ordnung, etwa die Menschenrechte, das gewaltkritische Friedenspostulat und den Minderheitenschutz, ergänzt. Alle diese normativen Referenzen gelten - mit unterschiedlichen Gewichten - auch bei SPD und PDS.

Gewiß sind die Grünen (in toto, nicht nur die „linken“ Clans) irgendwie „links“ - und zwar „lin­ker“ als die Sozialdemokratie, aber weniger „links“ als die Postkommunisten. Aber die Verortung in der politischen Gesäßtopographie besagt so gut wie nichts über Stil, Strategien und Zielwerte konkreter Politiken. Die Bedeutung des Prädikats „links“ ist auf einen relationalen Gefühls­wert geschrumpft, der ausdrückt, wie „nahe“ oder „fern“ man sich Akteuren wähnt, die sich auch auf dem Links-Rechts-Kontinuum verorten lassen. „Links-Sein“ ist heute eine Selbstzuschreibungs , keine instruktive Handlungskategorie. Was sie in konkreten Umständen bedeutet, bleibt von Fall zu Fall zu klären. Die sog. „Inhalte“, d.h. die Semantik spezifischer Themen, Forderungen und Ziele, sind offen bzw. auswechselbar geworden, seit sozialistische Institutionen (wie Volkseigentum, Planwirtschaft, Rätedemokratie usw.) nicht mehr als Identitätsfetische taugen. Auch „linke“ Linke empfehlen heute Haushaltskonsolidierung und eine Privatisierung von Staatsaufgaben, um für die Ausübung von Regierungsmacht gerüstet zu sein.

Als mögliches Identitätsmerkmal politischer Akteure bliebe noch die soziale Basis. Beziehen denn nicht auch die Grünen ihre Identität aus Gemeinsamkeiten der sozialen Herkunft, des Bildungsgrads, der besonderen Berufserfahrung oder Verteilungsposition ihrer Mitglieder? Die Antwort lautet Nein. Gewiß weist die Mitgliedschaft der Grünen eine Reihe von sozialstrukturellen Merkmalen auf, die sie tendenziell unterscheidbar macht von der Basis anderer Parteien. So wurde die überdurchschnittliche Repräsentanz der „neuen“ in Dienstleistungsberufen tätigen „Mittelschichten“ vielfach bestätigt; sie ist auch für die grünen Parteien anderer Länder typisch. Doch einerseits verteilen sich die Angehörigen der neuen Mittelschichten auf verschiedene Milieus, in denen unterschiedliche politische Auffassungen beheimatet sind, andererseits - und das wird von einer schematisch vorgehenden Parteienforschung übersehen - ist das politische Profil der Grünen von mittelschichttypischen Orientierungen zwar tangiert, aber nicht determiniert. Anders gesagt: Die Wähler der Grünen zeichnen sich durch eine - gewissermaßen „grüne“ - Auswahl unter den in den Mittelschichten gepflegten Überzeugungen und Interessen aus; sie sind eher „sozial“, „ökologisch“, „libertär“ und irgendwie „links“.

Ebensowenig wie die anderen Parteien können die Grünen das komplette Wählerreservoir der Mittelschichten kommunikativ erreichen, geschweigedenn ausschöpfen. Weil die anderen Parteien um dieselbe, im Anteil an der Wählerschaft zunehmende Gruppe konkurrieren, würden die Grünen sogar ihre Wahlchancen reduzieren, stellten sie ihr Profil zur Disposition. Positionsgewinne durch Anpassung an anders orientierte und bislang noch nicht erreichte Wähler sind „kostspielig“, ein positiver Saldo eines Positionswechsels darum extrem unwahrscheinlich. Deshalb ist es die bessere Alternative, den schon einmal gewonnenen Wählern nahezubleiben, indem man am Entwicklungsprozeß ihrer Welt- und Politikwahrnehmungen teilnimmt bzw. ihn - ohne die Illusion der Manipulierbarkeit - mitzugestalten sucht (zur inhaltlichen Seite weiter unten).

Die Zwischenbilanz der vermeintlichen und realen Grundlagen grüner Identität fällt also etwas mager aus. Es sind weder exklusive Überzeugungen (solche, die nur Grüne, aber nicht Mitglieder anderer Parteien besitzen) noch Überzeugungen und Interessen, die sich aus einer gemeinsamen sozialen Lage speisen. Zweckmäßiger als nach etwaigen Gemeinsamkeiten als Identitätsgarant wäre deshalb nach Integrationsmechanismen zu fragen. Das scheint auf Anhieb zu Antworten zu führen. Um den real wirksamen Integrationsmechanismen auf die Spur zu kommen, empfiehlt die Soziologie politischer Organisationen, nach materiellen wie nach immateriellen (z.B. sozialen) Anreizen zu Ausschau zu halten. Man wird in beiden Hinsichten fündig. Zum einen weil die Partei eine Vielzahl von teils hoch- teils mäßig attraktiven Beschäftigungsverhältnissen unterhält, die zum ungewöhnlich großen Teil als „selbstbestimmt“ gelten dürfen. Zum anderen stellen die Grünen für den Großteil ihrer aktiven Anhänger - wie andere Parteien auch - ein Medium der Selbstfindung und sinnhaften Sozialintegration dar, das immer wieder die Hoffnung auf individuelle Anerkennung und Befriedigung zu befriedigen verspricht. So dienen die Aktivitäten in den lokalen Parteigliederungen nicht nur der parteiinternen Willensbildung. Ihre Ressource ist das stets aufs neue kommunikativ erzeugte (Gruppen- bzw. Clan-) Zugehörigkeitsgefühl, ihr Resultat die Integration der Partei im Medium ihrer Teilgruppen bzw. Clans. Letztere erzeugen jedoch keine übergreifende „grüne“ Kollektividentität (wie es vielleicht einzelne Aktivisten annehmen, wenn sie ihre Gefühle mit einem Politikprogramm verwechseln).

Gewiß sind die Motive der individuellen politischen Beteiligung nicht auf ein materielles Nutzenkalkül reduzierbar. Doch knüpfen sich vielfältige immaterielle Motive an die realen und symbolischen Erträge des Parteilebens: Gruppenzugehörigkeit und individuelle Anerkennung, sinnhafte Wirklichkeitsdeutung und öffentliche Wahrnehmung, Sich-Selbst-Finden und Einflußnahme auf die Gesellschaft. Wer Parteimitglied wird oder sich als solches um ein Amt oder Mandat bewirbt, mag dazu von einem Angebotskalkül - dem Wunsch nach Förderung des Gemeinwohls und dem Zurverfügungstellen persönlicher Fähigkeiten - oder einem Nachfragekalkül - dem Willen zur Selbsterkundung und  darstellung - geleitet sein. Im Regelfall kommt wohl beides zusammen und verschafft der Partei ihre wertvollsten Erfolgs- und Bestandschancen.

Akzeptiert man diese Beschreibung des „Inputs“ politischer Parteien, erkennt man, daß es ein Mythos ist, was in den Parteien selbst als gemeinsame Basis angesehen wird: ein an den objektiven Gegebenheiten geschultes, d.h. vororganisatorisch entstandenes gemeinsames politisches Bewußtsein. Das Gegenteil ist der Fall: Das Parteileben, die internen Kommunikationen sind der bei weitem einflußreichste Faktor der Orientierung. Weil das so ist, kommt es immer wieder zu krassen Divergenzen zwischen Realität und parteigebundenen Überzeugungen. Darum ist auch der individuelle Saldo der Empfingungen von Zumutung und Befriedigung in keiner Weise ein Garant für den „Wahrheitswert“ oder die „Außentaug­lich­keit“ der in der internen Kommunikation entstandenen Überzeugungen. Aus den Gemeinsamkeiten der (Gruppen ) Diskurse resultiert leider kein privilegierter Zugang zu handlungstauglichen und „gesellschaftlichen“ Sinn machenden Orientierungen. Ob existierende Überzeugungen mehr oder weniger fetischhaft, mehr verantwortungs- oder mehr gesinnungsethisch ausfallen, hängt oft von Zufällen der Netzwerkbildung ab. „Inhaltliche Gründe“ sind nicht selten nachgeschobene Rationalisierungen. Denn niemand mag auf Dauer mit der Vorstellung leben, daß die Säulen des eigenen Denkens und Fühlens nicht rational rekonstruierbar sind.

Weil aus dem „Bauch“ der Partei keine Antworten kommen (können), wie der Identitätsbedarf der Partei auf längere Sicht und für alle Grüppchen und Clans verbindlich befriedigt werden kann, gerät das Identitätsthema mit schöner Regelmäßigkeit auf die Tagesordnung. Dabei ist ein Vorschlag aufgekommen, der auf Anhieb plausibel scheint, aber bei näherem Hinsehen das Problem nicht wesentlich entschärfen dürfte. Die Folgeprobleme sind mindestens so gewichtig wie das Ausgangsproblem.

Einer Empfehlung kundiger Parteibeobachter folgend, könnten sich die Grünen daran machen, die für sie maßgeblichen „Grundwerte“ zu diskutieren und in einem mit Satzungsstatus ausgestatteten Wertekatalog zusammenzufassen (vgl. Raschke 1991b). Das Problem der kollektiven Identität wird dadurch nicht verschwinden. Beschneidet man den Katalog auf Werte, die alle Grünen unbestritten teilen, dann fällt der Katalog ausgesprochen unspezifisch aus. Er wird in exakt gleicher Form auch für die anderen Parteien des Mitte-Links-Spektrums gelten und zu beträchtlichen Teilen sogar für das demokratische Mitte-Rechts-Lager. Bemüht man sich dagegen, vor allem das Trennende herauszuarbeiten, werden die zur Profilschärfung gezogenen Trennlinien mitten durch die Mitgliedschaft der Grünen gehen und neuen Konfliktstoff schaffen. Der an das Modell des rationalen ver­ständigungsorientierten Diskurses angelehnte Vorschlag verfehlt die schlechte Wirklichkeit einer real heterogenen Partei.
 

6. Was die Grünen entzweit: das Strukturproblem?

Nicht unbedingt als Alternative, aber als Möglichkeit der Eindämmung der Folgen und Kosten des Identitätsproblems werden tiefgreifende Strukturreformen gefordert: einerseits die Abschaffung der Trennung zwischen Parteiamt und parlamen­tarischem Mandat (respektive Regierungsamt), andererseits die Abschaffung der doppelt besetzten Parteispitze zugunsten des Amts eines/einer Parteivorsitzenden.

Was Joschka Fischer in Erfurt zur Verteidigung dieses Reformvorstoßes sagte, ist unbestreitbar: Strömungsparität an der entscheidenden Schnittstelle zwischen Innen- und Außenwelt lähmt die Handlungsfähigkeit der Partei, und zwar sowohl im Innen- als auch im Außenverhältnis. Was nominell zur gleichrangigen Präsenz von Frauen und Männern geschaffen wurde, hat sich nach dem Ausscheiden der „Krach-Fundis“ (Fischer) und der Verabredung des Burgfriedens zwischen „Linken“ und „Realos“ zum erstrangigen Effizienz- und Lernhindernis der Parteiführung entwickelt. Der Struktur nach handelt es sich „nur“ um die Pattsituation zwischen zwei gleichstarken Seiten. In der Realität fällt das Ergebnis häufig ungünstiger aus. Die Rivalität zweiter unterschiedlich orientierter Führungspersonen mündet in einen Nullsummenkonflikt ähnlich dem zwischen Regierung und Opposition; die Gewinne der einen Seite sind stets der Schaden der anderen, und umgekehrt. Ob das Skript als Drama oder Tragikomödie gegeben wird, hängt allein von den Persönlichkeitseigenschaften der Rollenträger ab. Eine solche Konstruktion an der Spitze einer politischen Partei schafft ein Sisyphus-Syndrom: Die Rollenträger ackern, ackern und ackern, aber kommen nicht voran.

Ihren besonderen Akzent erhält die Vorstandskonstruktion durch die Trennung von Amt und Mandat. Diese bedeutet nicht nur eine Separierung der politischen Ambitionen, sondern zieht jetzt auch eine Trennwand zwischen die Erfahrungswelten von Partei und Regierung. Wer ins Parlament will, braucht sich auf die Binnendiskurse der Partei nur bis zur jeweiligen Listenaufstellung einzulassen. Wer in den Vorstand will, muß sich weder vor noch nach seiner Wahl ernsthafte Gedanken um die Vermittlung der Parteiziele in Regierung und Gesellschaft machen. Man darf es als Glücksfall ansehen, daß sich nicht alle „Linken“ auf die Innenwelt der Partei konzentrieren und sich auch immer wieder eine „Reala“ findet, die sich der Parteiorganisation annimmt. Für die Organisation als Ganzes bleibt jedoch ein beträchtliches Handikap. Die Abneigung, Parteiverantwortung in Kategorien der Verantwortung für die reale Gesellschaft zu definieren, wird durch dieses Handikap nur bestärkt. Außerdem entbehrt die Partei weiterhin den Vorteil, den die Integration von Repräsentation und Verantwortungsträgerschaft in einer Person bietet. Doppelspitzen sind stets mit einem Schuß kollektiver Unverantwortlichkeit belastet.

Kurzfristig könnten weder die Vereinbarkeit von Amt und Mandat noch die Abschaffung der Doppelspitze Entlastung bringen. Denn beides führte zu einer abrupten Verknappung der Gratifikationen, um die sich die Amtskandidaten bewerben. Auch aus anderen Gründen ist es ungewiß, ob die Grünen mit einem Vorsitzenden-plus-mehrere-Stellvertreter-Modell auf Anhieb besser fahren. Denn zunächst hätte wohl nur eine wenig profilierte Kompromißkandidatin Aussicht, zur Vorsitzenden gewählt zu werden. Es ist sehr zweifelhaft, ob die dafür in Frage kommende Person auf genügend Akzeptanz bauen und Durchsetzungsfähigkeit entwickeln könnte, um die von ihr erwarteten - geradezu akrobatischen - Integrationsleistungen zu erbringen. Oder Parteispitze und Fraktionsspitze würden gemäß dem Prinzip der ausbalancierten Strömungsrepräsentanz mit Vertretern der beiden rivalisiernden Groß-Clans besetzt. Das würde aller Wahrscheinlichkeit nach einen Dauerkonflikt über die vermeintlich gegensätzlichen Aufgaben von Partei- und Fraktionsführung hervorrufen. Auch ginge die Wahrnehmung des Spitzenamtes der Partei durch den Repräsentanten nur eines der beiden Groß-Clans notwendig zu Lasten der öffentlichen und internen Präsenz des anderen Clans. Ein Verteilungskonflikt um Aufmerksamkeit und immerwährende Legitimitätszweifel der Unterlegenen wären vorprogrammiert. Demgegenüber erscheint die parallele Präsenz beider Strömungen an der Spitze der maßgeblichen Gremien als kleineres Übel. Der Integrationsschaden aus einer Halbierung der Spitzen bliebe nur dann begrenzt, wenn man mit der Gleichgültigkeit des unterlegenen Clans rechnen könnte. Dafür besteht kein Grund. Es ist jedoch möglich, daß sich die Lage eines Tages aufgrund des weiteren Verfalls der „inhaltlichen“ Differenzen zwischen den Clans günstiger darstellt. Dann kann und sollte die Partei in Sachen integrierter und persönlich verantwortbarer Führung einen Schritt nach vorn tun.

Wenn die Strukturreform nur verspricht, das Problem zu modifizieren, statt es zu entschärfen, erübrigt es sich, noch weiter in der Schublage „Organisationsstrukturen“ nach Patentrezepten zur Sicherung der Zukunft der Grünen zu suchen. Keines, das bei seiner Anwendung außer Gewinnern auch Unterlegene produziert, verbürgt Entlastung. Damit bleibt der Weg einer Veränderung der Partei und ihre Entwicklung zu einer selbstkontrollierten und regierungsfähigen Kraft ein offener Prozeß. Er wird wie bisher vom interessengeleiteten Handeln der Beteiligten, dem Werben mit alten und neuen Argumenten, der Präsentation alter und neuer Perspektiven, v.a. aber vom Verhältnis zwischen emotionalisiertem Gemeinschaftsbedarf und intellektuellen Potentialen, bestimmt sein. Doch besteht keine Veranlassung anzunehmen, daß alle in Frage kommenden Perspektiven und Argumente bereits auf dem Tisch lägen. In diesem Sinne stellen die folgenden Abschnitte einen Beitrag zur notwendigen Perspektiven-Diskussionen dar.
 

7. Kontext und Optionen des künftigen Profils

Der Versuch, ein positives Bild der Entwicklungschancen zu zeichnen, setzt sich bewußt vom eingangs skizzierten Krisenszenario ab. Es ist eine Exploration des Möglichen, keine „Ablei­tung“ zukünftiger Wirklichkeit aus den Beständen oder Trends der Gegenwart. Chancen in Kategorien des Ziels, statt in solchen des Weges auszumalen, heißt keineswegs, einen Mangel an denkmöglichen Entwicklungswegen zu unterstellen. Im Gegenteil, weil der Verlauf der Diskussionen über die künftige Gestalt der Grünen offen ist, sind die in der Zukunft gangbaren Entwicklungspfade erst recht als kontingent anzusehen. Ihre Realisierbarkeit vermag sich erst im Verlauf der Diskussionen abzuzeichnen.

Startpunkt einer rationalen Sondierung der Möglichkeiten sind die Kategorien von Angebot und Nachfrage. Einerseits werden die besonderen Potentiale und Eigenschaften der Grünen („wie sie heute sind“) sondiert, andererseits der gesellschaftliche Bedarf an Leistungen, wie sie ganz allgemein von politischen Parteien erbracht werden und speziell von den Grünen erbracht werden könnten. Beginnen wir mit der Nachfrage.

Es braucht keine politische Phantasie, um der SPD „nach Lafontaine“ ernsthafte Bemühungen um eine Annäherung an das Profil von New Labour zu unterstellen. Gemäß dieser Vorhersage werden die Grünen unter Druck geraten, zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen. Sie können sich in der Hoffnung auf einen von der SPD geräumten Platz der „Linksökologie“ für die Pflege der von der PDS (noch) nicht erreichten Reste an traditionslinker Weltanschauung starkmachen und das Selbstbild „Die Grünen als Heimat der gesellschaftsverändernden Kräfte“ (Trittin) errichten. Gleichwohl werden sie darauf zu achten haben, sich ausreichend politischen Bewegungsspielraum zwischen SPD und PDS zu sichern. Das ist nicht unproblematisch, seit sich letztere in Ostdeutschland als „natürliche“ Bündnispartner gefunden haben. Durch die „Linke Heimat“-Option wird vermutlich die ideologische Nähe zu der sich als „antikapitalistisch“ verstehenden PDS aufgewertet. Doch das bringt keine Entlastung, sondern eher eine Verschärfung des Positionierungsproblems.

Die PDS dürfte sich mit fortschreitender Verjüngung infolge des Ablebens der DDR-Rentner­generationen einige Modernisierungskuren verordnen, die dank der in Ostdeutschland gegebenen Regierungschancen notwendig zur Aktualisierung des program­matischen Profils führen. Sie ge­winnt dadurch eine gute Chance, auch in Westdeutschland zur Heimat der „emotionalen“ Linken zu werden, eine Chance, auf die sie im Eigeninteresse an westdeutschen Wahlstimmen nicht verzichten kann. Folglich wird schon auf mittlere Sicht nur wenig Raum für Grüne bleiben, die gleichzeitig „linker“ als die SPD und „moderner“ als die PDS zu sein beanspruchen.

Auch der Kontext der zweiten Alternative ist durch zunehmenden „Blairismus“ der SPD charakterisiert. Wenn sich die SPD-Intellektuellen, die den britischen Konzepten eines „dritten Weges“ Geschmack abgewinnen, nicht allzu ungeschickt anstellen, resultiert daraus für die deutsche Öffentlichkeit ein Stück politische Aufklärung - und für das Mitte-Links-Spektrum eine veränderte politische Tagesordnung. Denn die neulinken Antworten der Blair-Riege auf die industrielle Effizienzrevolution und die sich verdichtende Globalökonomie umschreiben kein ökonomisches Nullsummenspiel, wie es von altlinken Positionen aus routinemäßig beschworen wird (Wiesen­thal 1999). Die seit einer Dekade immer zahlreicher und lauter werdenden Stimmen der Entwicklungsländer, die ihre Chancen im Wachstum von Weltwirtschaft und Welthandel erblicken, werden dem altlinken Katastrophenszenario auch in Westeuropa den Garaus machen (wie bereits in Lateinamerika, Asien und derzeit in Afrika). Gleichwohl hat die im Denkhorizont des neulinken Wachstumsparadigmas entworfene Politik gravierende Externalitäten, und zwar insbesondere beim industriellen Umgang mit der Natur und hinsichtlich des Schicksals marginalisierter sozialer Gruppen.

Um Platz und Funktion der Grünen in diesem Szenario zu bestimmen, muß man noch ein bißchen ausholen. Der deutsche „Blairismus“ wird sich vom britischen Vorbild unterscheiden. Tony Blair definierte die Position von New Labour gegenüber den sozialen Opfern der Effizienzrevolution auf dem Boden der von der Regierung Thatcher durchexerzierten Deregulationspolitik. Diese hatte u.a. die intermediäre Ebene der Gesellschaft stillgelegt und alle Elemente eines britischen Korporatismus von der institutionellen Landkarte getilgt (Offe 1994). New Labours neue Leitprinzipien „fairness“ und „social inclusion“ versprechen soziale Kompensation für ökonomische Prämien, die bereits anfallen, weil ihre institutionellen Voraussetzungen von Thatcher geschaffen worden waren. Selbst wenn sich die deutschen Sozialdemokraten dieselbe Fairness- und Inklusionsrhetorik zu eigen machten, werden sie ihnen hierzulande nicht die gleiche Bedeutung zumessen können. Denn keine Hombach  und keine Schröder-SPD vermögen es, dem deutschen Korporatismus ade zu sagen.

War schon die CDU/CSU außerstande, dem Vorbild Thatchers zu folgen, so ist es die SPD noch weitaus weniger. Die Modernisierungspolitik der SPD mag vielleicht einen deutlicheren Um­welt­akzent als New Labour setzen, in Sachen Sozialreform muß sie ihren Reformanspruch je­doch mäßigen, da sie um ihres Erfolgs willen dem Interes­senhorizont des gewerkschaftlichen „Laborismus“ verpflichtet zu bleiben hat. Der in den deut­schen Gewerkschaften, aber auch von den hiesigen Sozialwissenschaften und Medien verteidigte Besitzstandsegoismus dürfte die Grundbedingung jedes Modernisierungsprojekts deutscher Prä­gung bleiben.

Alternative Nummer zwei bietet aber den Grünen eine Profilierungsoption, für welche „objek­tive“ Nachfrage besteht, die nur sie und keine andere Partei befriedigen kann: die Funktion, den grundlegenden Wandel der politischen Tagesordnung und insbesondere das Projekt der institutionellen Modernisierung - von der Sozialpolitik bis zur Wirtschafts(de)regulation - mit produktiver Kritik und politikfähigen Vorschlägen begleitend zu steuern. Aufgrund ihrer Position im sozioökonomischen Koordinatennetz sind die Grünen besser als andere befähigt, den Interessengruppen-Bias der sozialdemokratischen Modernisierungspolitik intellektuell zu reflektieren und politisch-praktisch zu konterkarieren. In dieser Funktion hätten die Grünen zum einen den Krypto­korporatismus der Kanzlerriege mit exakt den Legitimitätszweifeln und Stopmarkierungen zu konfrontieren, die ein umfassender, alle Teilbereichsfunktionen und Teilgruppen der Gesellschaft respektierender Modernisierungsbegriff postuliert. Zum anderen könnten sich die Grünen ohne größere Verluste an politischer Unterstützung von Klientelinteressen befreien, um sich zum Experten für politische Rationalitätsgewinne in sozialer, sachlicher und zeitlicher Hinsicht aufzuschwingen.

Letzteres hieße konkret, zugunsten der potentiellen sozialen Opfer der notwendigen Modernisierungspolitiken, zugunsten der sachlich gebotenen bzw. überlegenen Alternativen und zugunsten einer Langfristperspektive der Folgenberücksichtigung zu agieren. Die Grünen wären die Partei der rationalen Politikwahl im Kontext der ökologisch und sozial moderierten Effizienzrevolution. Voraussetzung ihres Erfolgs wäre die Fähigkeit, sich zu einem Forum der gesellschaftlichen Reformdebatte fortzuentwickeln, das gleichermaßen attraktiv ist für gesellschaftspolitisch engagierte Fachexperten (im den einzelnen Politikfeldern) wie für komplexitätsbewußte Bürger, die ideo­logischen „Ableitungen“ und den Vereinfachungen kompletter Weltanschauungen zu mißtrauen gelernt haben. Als politische Kraft im Mitte-Links-Spektrum würde sich ein solcher Kollektivakteur gleichermaßen vorteilhaft vom institutionellen Traditionalismus der Sozialdemokratie wie von den unverantwortbaren PDS-Forderungskatalogen (nach dem Motto „Jeder Mensch hat das Recht auf ein überdurchschnittliches Einkommen“) abheben.

Was die Nachfrage nach diesen Funktionen angeht, so sind an ihnen nicht nur große Teile der bislang gewonnenen Wählerschaft interessiert, sondern auch die SPD-Führung. Dieser ist durchaus bewußt, welche Probleme ihr allzu günstige Wahlergebnisse brächten. Gewönne sie die absolute Mehrheit (was nach einem Abtreten der Grünen im Bereich des Möglichen liegt), so würde sie von den Besitzstandsegoismen der eigenen Stammwählerschaft auf eine Weise blockiert, die alle zukunftsgerichteten Reformprojekte von vornherein zum Scheitern verurteilte. Von den Grünen - wirksamer vermutlich qua innovativem Vorschlag und Argument denn per Koalitionsvertrag - unter Lerndruck versetzt, wird es der SPD-Führung jedoch möglich, sachlich und sozial verantwortbare Projekte zu wählen und die Durststrecke bis zum Zeitpunkt, an dem deren Ertrag sichtbar wird, zu überbrücken.

In einer Großen Koalition fiele die Erfolgsbilanz der SPD dürftiger aus. Die Opfer, die der SPD von CDU und CSU in konkreten Politikprojekten auferlegt würden, unterscheiden sich immer noch von dem, was in einem selbstverantworteten Modernisierungskatalog stünde. Sie würden in den Augen der Mitte-Links-Wählerschaft allemal schwerer wiegen als die Zugeständnisse, welche die Grünen in Sachen Umwelt, Bürgerrechte und Minderheiten verlangen. Das gilt in besonderem Maße, seitdem Stoiber die Meinungs- und Strategieführerschaft der Union übernommen hat. Alle echten institutionellen und ökonomischen Modernisierungserfolge würden ohnehin den Konservativen gutgeschrieben, und sei es nur, weil sie von denen mit größerer Lautstärke eingefordert werden.

Scheint die Nachfragesituation für „Grüne als Modernisierungsforum“ bis hierhin plausibel, so bleibt nur noch die Konkurrenz mit der FDP zu würdigen. Sie ist besteht möglicherweise auf längere Sicht. Was aus der FDP werden wird, falls sie den tektonischen Veränderungen des Parteiensystems nicht gänzlich zum Opfer fällt, hängt wesentlich von den Grünen ab. Würden sich die Grünen für die Alternative „Linke Heimat“ entscheiden, gewönne die FDP ihre alte Funktion als Mehrheitsbeschaffer („Funktionspartei“) und Repräsentant partikularer Wirtschaftsinteressen ohne nennenswerten Eigenaufwand zurück. Das ist die Wunschoption von Brüderle, Gerhardt und Wester­welle, weil sie von allen intellektuellen und organisatorischen Anstrengungen befreit. Verstünden sich dagegen die Grünen auf eine Schärfung ihres Profils als Experten für politische Rationalitätsgewinne, würde der FDP ihre Bestandsgarantie im Parteiensystem entzogen. Dann ist sie strukturell und funktional überflüssig, was allenfalls die auf zwei Prozentpunkte geschrumpfte Stammwählerschaft schmerzte.

Blicken wir noch einmal auf die „Angebotsseite“. Warum sollen ausgerechnet die Grünen imstande sein, die ihnen hier zugedachte Rolle einer entschieden komplexitätsbewußten („delibe­rativen“) Modernisierungskraft auszuüben? Die Antwort wurde im vorangegangenen Kapitel gegeben, als es um die Frage nach der grünen Identität ging. Die potentielle Stärke der Grünen als Modernisierer folgt aus ihrem strukturellen Defizit: Weniger als CDU/CSU, SPD, FDP und PDS sind sie in den organisierten Interessennetzwerken der deutschen Gesellschaft verankert. Zwar geriet die Klientelpolitik grüner Landesverbände des öfteren und zurecht unter Kritik (zuletzt im Leitkommentar der FAZ vom 31.3.1999). Doch ist nicht zu übersehen, daß die Loyalität gegenüber alternativen Institutionen, lokalen Szenen und der stagnierenden Alternativökonomie längst keine „tragende“ Funktion mehr besitzt. Im übrigen hatte der grüne Klientelismus selbst zur Hochzeit der Eroberungsfeldzüge durch den hessischen Landeshaushalt einen anderen Charakter als der Interessenfilz von CDU/CSU, FDP und SPD.

Zum Referenzrahmen grüner Politik zählen nicht die konservativen Bestandsinteressen der Großorganisationen der Wirtschaft, des Sozialstaats, der Wissenschaft und anderer Sektoren. Folglich können die Grünen ihr politisches Schicksal auch ohne verteilungspolitische Ressentiments gegen bestimmte soziale Gruppen bestreiten. Sie müssen sich nicht notwendig den Defensivinteressen bestimmter Klientele, etwa der Facharbeiter, der Freiberufler und Selbständigen, der Berufe des öffentlichen Dienstes oder der ehemaligen Staatsbediensteten der DDR, verpflichtet fühlen. Zwar haben es die Grünen in der Vergangenheit versäumt, aus ihren bescheidenen Klientelbindungen einen Reputationsvorteil zu ziehen, aber sozioökonomische Neutralität war auch noch nie so wertvoll wie in der Gegenwart, in der es ein Überangebot von selbstinteressierten Reformatoren gibt. Müssen die Vorstellungen der anderen Parteien etwa zur Reform der sozialen Sicherungen, des Gesundheitswesens, der Universitäten, des Gewerberechts usw. stets auf die darin verborgenen Partikularinteressen abgeklopft werden, so können sich die Grünen einen Vertrauensvorschuß verschaffen, wenn sie den von ihren Fachpolitikern ansatzweise gebahnten Weg fortsetzen. Das hieße, sich endgültig zum komplexitätsbewußten und argumentativ starken Repräsentanten von Sachadäquanz, sozialer Fairness und langfristigem Folgenbewußtsein zu machen. Mit dieser Spezialisierung könnten sie sowohl den Großteil der bislang erreichten Wählerschaft halten als auch - je nach aktuellem Themenkatalog - in erheblichem Umfang zusätzliche Wähler gewinnen.
 

8. Auf dem Weg zu einem erneuerten Selbstverständnis

Die Entwicklungsoption der Partei als Experte für politische Rationalitätsgewinne schließt ein verändertes Verständnis der Beziehung zwischen Wählern und Partei ein. Entwickelten die Grünen ihre Botschaften an Öffentlichkeit und Wähler bisher nach internen, nicht selten idiosynkratischen Gesichtspunkten, so wäre für die komplexere gesellschaftliche Aufgabe eines vernunftverpflichteten Modernisierungsakteurs der entgegengesetzte Kanal, d.h. ein breiter Fluß der Informations- und Orientierungsvermittlung „vom Wähler zur Partei“ auszubauen. Das kann in tatsächlichen Kommunikationsprozessen erfolgen, bedeutsamer ist aber wohl der parteiinterne Stellenwert der Frage „Was beschäftigt bzw. welche Probleme und Themen interessieren die von uns bevorzugt adressierten Wähler?“ Um diese Außenreferenz fruchtbar zu machen, bedarf es zunächst einer Konkretisierung der Eigenschaften, die dem „bevorzugt adressierten Wähler“ zugeschrieben werden.

Hier liegen Sinn und heuristischer Nutzen einer grünen Grundwertedebatte. Es ginge in ihr nicht um eine pharisäerhaft idealisierte Selbstbeschreibung der Partei und ihrer Ideologen, sondern um die Rekonstruktion der kognitiven und normativen Ausstattung realer gesellschaftlicher Charaktere, für deren Vertretung sich die Partei stark machen will. Aus leicht einsehbaren Gründen stehen dabei nicht Maximalwerte politischer Moral im Vordergrund, sondern die Erwartungen, Sorgen und Wünsche von Personen, die im Gleichgewicht von individuellen Interessen und kollektiven Werten leben wollen: zwar „gut“, aber nicht auf Kosten ihrer Mitmenschen; zwar erfolgs- und nutzenorientiert, aber innerhalb gemeinwohlförderlicher Rahmenbedingen; zwar effizienzbedacht und „geizig“ hinsichtlich ihrer Steuerpflichten, aber bereit, einen fairen Beitrag zugunsten des Gemeinwesens und der weniger glücklich Davongekommenen zu leisten.

Normativer Bezugspunkt grüner Politik wäre weiterhin ein Problem- und Gesellschaftsverständnis, in dem die Zukunft nicht auf ihren billigen Gegenwartswert diskontiert ist, sondern in langfristigen Folgenszenarien als Maßstab für die Wahl vernünftiger Institutionen dient. Diesem Gesellschaftsbegriff korrespondieren ein Begriff von individueller Verantwortung einschließlich des Vorrangs der Selbstzuständigkeit vor der Subsidiaritätspflicht Dritter, hohes Komplexitätsbewußtsein gegenüber den Funktionsbedingungen und der Nichthierarchisierbarkeit der gesellschaftlichen Teilbereiche sowie das Wissen um die Notwendigkeit größerer Lernfähigkeit und Flexibilität auch seitens der politischen Akteure.

Als ein Modernisierungsakteur mit dem Anspruch, die Multi-Rationalität „gesellschaftlicher Vernunft“ zu repräsentieren, hätten die Grünen den wechselnden Gelegenheiten der Problem- und Themenkonjunkturen ebensoviel Beachtung zu schenken wie der selbsterstellten Prioritätenliste. Das heißt: Opportunitätenbewußtsein statt Opportunismus. Generelles Bezugsproblem wäre die je bestmögliche argumentative Vermittlung der konkurrierenden Prioritätsanforderungen von ökologischer Nachhaltigkeit, ökonomischer Effizienz und sozialer Fairness. Für die allfällige Konkretisierung dieser Aufgabe bedarf es eines ausgesprochen undogmatischen Mittelverständnisses, wie es durch den Abschied von den diversen Mythen und dem prinzipiellen Technikpessimismus bereits vorbereitet ist. Gelänge es, sich mit einem derart präzisierten Selbstverständnis zum Forum von zugleich fachlich kompetenten und gesellschaftspolitisch ambitionierten Bürgern zu machen, fiele den Grünen die bislang unbesetzte Rolle eines Moderators der institutionellen Modernisierung zu, die der deutschen Gesellschaft bei der Anpassung an die globalwirtschaftlichen Interdependenzen und die Neuverteilung der Wachstumspotentiale zwischen Industrie- und Entwicklungsländern bevorsteht.

Das teilweise noch auf die Diskussionen der 70er und frühen 80er Jahre zurückgehende Bundesprogramm der Grünen ist keine Basis für die neue Rolle. Die ihm zugrundeliegenden Prinzipien der Naturschonung, Sozialverantwortlichkeit und des Minderheitenschutzes haben ihren Geltungsanspruch zwar nicht verloren. Aber die konkreten Problembeschreibungen und die seinerzeit gefundenen Antworten sind weitgehend überholt. Sie haben auch ihre emotionale Attraktivität und Mobilisierungskraft eingebüßt. Die „alten“ Inhalte werden von der Partei nur noch verwaltet; „wir brennen nicht mehr für sie“ (J. Fischer). Darum trifft es zu, daß der Aufschwung in eine neue Rolle der Grünen nur gelingen kann, wenn er sich in neuen Konkretionen der praktischen politischen Ziele ausdrückt. Ziele, für deren Verständnis es erst einer Übersetzung durch Zeitgeschichtler bedarf, haben im politischen Wettbewerb keine Chance. Demgegenüber scheinen manche der in Programmen festgeschriebenen Politikideen nahezu unvermittelbar, weil von der Wahrnehmungswelt der bevorzugt adressierten Wähler abgelöst. Sie halten auch kaum mehr Kriterien der sachlichen Angemessenheit und der Abstimmung mit weiteren relevanten Vernunftkriterien stand. Thematische Innovationen und die Neuordnung der Prioritäten sind unumgänglich.

Wenn es um eine Aktualisierung der „Inhalte“ grüner Politikansprüche geht, ist folgendes zu bedenken: Es ist an der Zeit, eine systematische Unterscheidung vorzunehmen zwischen dem, was die Partei durch ihre längerfristige Präsenz im politischen System zu bewirken anstrebt und was darum als oberstes Erfolgskriterium zu gelten hat auf der einen Seite, und den Problemen und Themen auf der anderen Seite, derer man sich annimmt, um die unmittelbaren Voraussetzungen für den Fortbestand der Partei zu sichern. Das ist möglicherweise etwas einfacher als es sich in Worten darstellen läßt, geht es doch nur um eine vertretbare Beschreibung des Unterschieds von aktuellen Wahlzielen und dauerhaft angestrebten Wirkungen.

Ein Beispiel: Zurecht wird die derzeitige Krise der Grünen auch auf den Popularitätsverlust der klassischen Umweltthemen bzw. die generelle Sättigung mit Untergangs- und Degradationsszenarien zurückgeführt. So zutreffend diese Beobachtung auch scheint, so inakzeptabel ist die vermeintliche Konsequenz, nun gelte es Abschied von den „urgrünen“ Themen zu nehmen. In genau diesem Spannungsverhältnis zwischen sachlich gebotenen Zielen und der Konjunktur aktueller Themen liegt aber die Chance der Grünen, zu einem neuen Aufgabenverständnis zu gelangen: nämlich im flexiblen Umgang mit wechselnden Themenkonjunkturen für die kontinuierliche Repräsentation unverzichtbarer Rationalitätskriterien zu sorgen.

Es ist nicht nur legitim im Sinne berechtigter Eigeninteressen, sondern durch die Selbstverpflichtung auf universale Werte und langfristige Zeithorizonte ausdrücklich geboten, sich auf schwankende Aufmerksamkeitsmuster und wechselnde Themenkonjunkturen einzulassen. Es ist sinnvoll und statthaft, den Wahlkampf mit aktuellen Themen und entsprechenden Politikangeboten zu bestreiten, um so der Partei eine Position zu sichern, von der aus sie kontinuierlich als Garant des Nachhaltigkeitsprinzips und einer langfristigen Folgenorientierung wirken kann. In diesem Sinne hätten die Grünen bei der Bundestagswahl 1998 gut daran getan, mit einem umfassenden und zugleich realistischen Programm zur Integration arbeitsloser und gering qualifizierter Jugendlicher anzutreten - und sich auch auf diese Weise die Position und den Kredit für eine langfristig verantwortbare Energiepolitik zu verschaffen.

Mit anderen Worten: Das „oberste Erfolgsprinzip“ und der langfristige gesellschaftliche Nutzen einer Regierungsbeteiligung der Grünen muß keineswegs jederzeit in konkrete Wahlversprechen oder werbetaugliche Ziele gemünzt werden können. Wichtiger ist es, die Bereitschaft und Fähigkeit zu komplexitätsbewußten Abwägungen und einer inklusiven Folgenbilanz an aktuellen (oder in der Vergangenheit angesiedelten) Beispielen zu demonstrieren. Von verantwortungsvollen Politikern wir nicht erwartet, daß sie die Zukunft vorhersagen können; Ambitionen als Prognostiker wirken eher unsolide und vertrauensmindernd. Gefragt sind dagegen Belege der Kompetenz, auch in unvorhergesehenen Entscheidungslagen alle sachlich gebotenen Gesichtspunkte zu beachten und legitimierbare (normative) Entscheidungsprämissen zu formulieren.

Die konkreten problembezogenen Wahlziele dürfen natürlich nicht mit den Voraussetzungen einer sozial verantwortbaren und langfristig orientierten Politik kollidieren. Vermutlich fällt es einer kleinen Partei wie den Grünen sogar leichter als den Volksparteien, ihre aktuellen Kurzfrist-Ziele mit „obersten Erfolgsprinzipien“ und den langfristigen Funktionen zu vereinbaren. Doch das gelingt selbst Großparteien hin und wieder. Immerhin hat die CDU mit der Institutionalisierung des ordnungspolitischen Rahmens der Marktwirtschaft und der Westbindung etwas Gleichwertiges bewerkstelligt. Was spricht also dagegen, die strukturelle Eignung der Grünen als Garanten langfristiger Multi-Rationalitäten zu nutzen. Spagat ist machbar, Herr Nachbar.

In der Tat ist die Ökologiethematik weder maximierungstauglich noch so bequem hantierbar wie die Themen der Einkommens , Sozial- und Finanzpolitik. Auch ist es unsicher, ob Umweltpolitik wirklich so umfangreiche positive Externalitäten hat, wie sie von den Verkündern eines Investitions- und Wachstumsschubs als Folge umweltpolitischer Interventionen ausgemalt werden. Anzeichen wachsender Gleichgültigkeit und eines grassierenden „Öko-Pessimis­mus“ sind unübersehbar (vgl. Mulhall 1998, Urbach 1999). Doch gerade aus diesem Grund stehen die Grünen als einstige „Umweltpartei“ vor der Aufgabe, Techniken der Kontinuitätssicherung zu entwicklen, die ein Fortwirken der ökologischen Entscheidungskriterien ermöglichen. Die praktischen Fragen lauten also nicht nur: „Welche Themen eignen sich, die Erosion des ökologischen Problembewußtseins aufzuhalten?“ und „Welche Themenpräsentation verspricht Aufmerksamkeitsgewinn?“, sondern auch: „Welche Themen helfen, die Einflußposition auszubauen und auf Dauer zu stellen?“ Die richtigen Antworten auf diese Fragen zu suchen, heißt nicht opportunistisch, sondern verantwortungs , d.h. opportunitätsbewußt zu handeln. Um für eine unumkehrbare Präsenz ökologischer Kriterien der Politik zu sorgen, können und müssen sich die Bündnisgrünen der Themen annehmen, die derzeit die politische Tagesordnung bestimmen: Integration der Jugend, Arbeit und Sozialeinkommen, Bildung und Wissenschaft.
 

9. Schlußwort

Die Empfehlung, zu „bleiben wie wir sind“ (Trittin) und dabei zu hoffen, daß die anderen so werden, wie man selbst sein möchte, ist normativ und strategisch unterkomplex. Der bewußte Wandel von Selbstverständnis und Aufgabenprofil in Richtung eines kollektiven Experten für politische Rationalitätsgewinne mit der Begabung zur gelegenheitsbewußten Themenwahl ist aber einer der wenigen gangbaren Wege, auf denen die festgefahrene, aber durch konkurrierende „Inhalte“ kaum mehr gerechtfertigte Clan-Struktur über­windbar wird. Es ist der Weg, auf dem miteinander und mit vielen Segmenten der gesellschaftlichen Umwelt über konkrete Themen nüchtern verhandelt werden muß. Für eine politische Kraft, die sich dieser Aufgabe annimmt, existiert nicht nur dringender Bedarf, sondern auch - in Gestalt der Grünen - ein brauchbares Potential.
 
 

Literatur

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Offe, Claus, 1994: Die Aufgabe von staatlichen Aufgaben. 'Thatcherismus' und die populistische Kritik der Staatstätigkeit. In: Grimm, Dieter (Hg.): Staatsaufgaben. Baden-Baden: Nomos, 317-352.

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Raschke, Joachim, 1991b: Die Parteitage der GRÜNEN. Aus Politik und Zeitgeschichte B 11-12/91, 46-54.

Urbach, Matthias, 1999: Übertreibende Forscher. Die ersten Warnungen vor Waldsterben und Klimagau klangen dramatisch. die tageszeitung, 24.2.1999: 15.

Wiesenthal, Helmut, 1993: Realism in Green Politics. Social movements and ecological reform in Germany. Manchester, New York: Manchester University Press.

Wiesenthal, Helmut, 1999: Globalisierung als Epochenbruch - Maximaldimensionen eines Nichtnullsummenspiels. In: Schmidt, Gert/ Trinczek, Rainer (Hg.): Globalisierung. Sonderheft der SOZIALE WELT. Göttingen, Otto Schwartz (i.E.).
 

© Helmut Wiesenthal 1999
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