Beitrag zum Workshop "Lernende Organisation:
Wie ist Lernen in Organisationen
möglich? Was zeichnet eine
lernende Organisation aus?" des Promotionskolleg
"Innovation von und in Organisationen"
der Hans-Böckler Stiftung an der Ruhr-
Universität Bochum (Sprecher
Prof. Dr. Heiner Minssen) am 17.05.2000.
Für die folgenden
Thesen ist es zweckmäßig, zwischen Organisationslernen und Organisationswandel
möglichst scharf zu differenzieren. Organisationslernen ist danach
als Prozeß des intendierten forcierten Wandels struktureller und
kognitiver Organisationsvariablen zu charakterisieren, während Organisationswandel
dem „business as usual" der Bestandssicherung zuzurechnen ist. In der Realität
mag beides weniger leicht zu trennen sein. Um die Probleme und Optionen
eines inszenierten „Gestaltwandels" zu eruieren, empfiehlt es sich jedoch,
diesen von der laufenden Sicherung eines bestandsförderlichen Korrespondenzverhältnisses
zwischen Organisation und Umwelt zu unterscheiden.
II.
Gleichwohl verdienen
zunächst Anspruch und Praxis des bestandssichernden Organisationswandels
Beachtung. Denn es wäre falsch, sie für trivial zu halten bzw.
als alltäglich und routineförmig anzusehen. Ein einigermaßen
zutreffendes Verständnis erfordert die Kenntnisnahme von zwei komplementären
Grundfunktionen der Organisation als einem auf Fortbestand angelegten Kommunikationssystem:
(1) Dieses muß einen Set von Strukturmerkmalen und Sinnprämissen
ausbilden, der von unmittelbaren Umwelteinflüssen abgekoppelt ist
und die Organisation als etwas „Beständiges“ in der sich wandelnden
Umwelt erscheinen läßt; (2) dürfen diese Praktiken keiner
selbstschädigendem Umweltignoranz Vorschub leisten, welche die Organisation
ihren Zugriff auf externe Ressourcen (Kapital, Kunden, Subventionen und
ganz allgemein: Funktionsreputation) kosten würde. Schon der „normale“
Organisationsprozeß ist folglich eine Art Gratwanderung zwischen
den Klüften einer zu weit getriebenen Routinisierung einerseits und
des Identitätsverlustes bzw. der Selbstauflösung andererseits.
Reaktive oder intentional
gesteuerte Wandlungsprozesse in Teilbereichen der Organisation sind bei
stetiger und eher schwach als stark gepufferter Umweltabhängigkeit
die Regel. Welchen Sinn macht es dann, einige von ihnen als „Organisationslernen“
zu thematisieren, andere aber nicht? Eine (gewiss nicht die einzige tragfähige)
Verteidigungslinie mag auf die Vorstellung eines „lernenden Subjekts“ rekurrieren.
Sie ist den folgenden Thesen zugrundegelegt. Danach werden zwischen dem
ubiquitären - und nicht selten ebenfalls tiefgreifenden - Organisationswandel
und dem (hier emphatisch verstandenen) Organisationslernen diese Unterschiede
vermutet:
(1) Während wichtige Prämissen des Organisationswandels den Funktionskatalogen von Teilsystemen der Organisation eingeschrieben sind, ist Organisationslernen i.e.S. eine „unorthodoxe“, unkodifizierte und nicht routinisierbare Praxis.
Derart folgenreiche
Veränderungen sind voraussetzungsvoll und bleiben hochriskant, selbst
wenn die notwendigen Voraussetzungen erfüllt zu sein scheinen. Zur
empirischen Aufklärung von OL-Prozessen (i.e.S.) bedarf es der Untersuchung
verschiedener Teilmomente: (1) Wie wird "neues Wissen" identifiziert und
organisatorisch verfügbar, da es doch systematisch gefährdetist,
den Blindstellen der Wahrnehmung zum Opfer zu fallen? (2) Was passiert
in dem Prozeß, in dem "neues Wissen" den Anscheinvon
Häresie und Kollusion (also einer Verschwörung gegen die Organisation,
wie sie ist) verliert und Legitimität gewinnt? (3) Vollzieht sich
die Umverteilung von Evidenz zwischen "altem" und "neuem" Wissen zunächst
als individueller (umweltabhängiger) Lernprozeß der Beteiligten,
als Gruppenprozeß (des diskursiven Kognitionswandels) oder ist sie
das Ergebnis strategischer Interaktion und formaler Entscheidungen (entsprechend
der Stimmrechtsverteilung in Entscheidungsgremien)? (4) Wie verhalten sich
die Verteilung von "neuem Wissen" und die Verteilung von Entscheidungskompetenzen
zu einander? Sind sie kongruent oder ungleich?
Die restlichen
Überlegungen beziehen sich auf einige Aspekte des (als Teilmoment
3) imaginierten Interaktionsprozesses, in dem "neues Wissen" den Status
einer maßgeblichen Orientierung erhält. Der Ausgang dieser Sequenz
des OL konditioniert immerhin die Umwelt- und Selbstwahrnehmungen, welche
Präferenzordnungen informieren, die wiederum Struktur- und Strategieentscheidungen
anleiten. Weist man dieser Sequenz einen Schlüsselstatus für
das Gelingen und die Inhalte des OL zu, so hat man eine metatheoretische
Vorentscheidung getroffen, die unter den in Frage kommenden Erklärungshypothesen
selektiert.
Bei den derzeit
reputablen Theorieansätzen, welche für Kausalerklärungen
distinkter Sachverhalte in Frage kommen, handelt es sich um Varianten lediglich
zweier Grundmuster: Neo-Institutionalismus und Rational Choice.
Die institutionalistischen Ansätze
erscheinen zwar als systematisch ungeeignet, Transparenz in die Kausalstruktur
kognitiver Innovationen zu bringen, aber sind doch unentbehrlich zur Konzeptualisierung
der "constraints" bzw. des Möglichkeitskanals der Innovation. Einerseits
stellt die Innovation eine Durchbrechung institutioneller Gegebenheiten
dar, andererseits bleibt das Gelingen des OL, d.h. das Wirksamwerden neuer
Deutungen an Bedingungen ihrer Anschließbarkeit gebunden. Nicht jede
kognitive Innovation ist möglich; nicht jede innovative Deutung erweist
sich als beständig und instruktiv; nicht jede beständige und
instruktive Deutung ist material erfolgswirksam; nicht jeder material erfolgreiche
Gebrauch von Deutungen verdankt sich deutungsadäquaten Wirkungszusammenhängen.
VI.
In der Absicht
einer weiteren Aufhellung der "Schlüsselsequenz" wird vorgeschlagen,
sorgfältig zwischen "inhaltlichen" Eigenschaften neuen Wissens und
den Bedingungen einer erfolgreichen Organisationskarriere des neuen Wissens
zu unterscheiden. Ob neues Wissen angenommen oder abgelehnt wird, hängt
nicht systematisch von Eigenschaften (dem "Inhalt") des Wissens ab. Es
ist auch nicht so, daß sich das "alte" Wissen seinen Nachfolger selbst
auswählt,[2]
sondern das neue Wissen erlangt Entscheidungswirksamkeit erst im Ergebnis
von Kommunikationsprozessen und Metaentscheidungen (z.B. über Teilnahme
und Ausschluß von Akteuren).
In Anlehnung an
methodische Praktiken der empirischen Politikwissenschaft wird weiterhin
vorgeschlagen, sich erfolgreiche kognitive Innovationen i.S. des OL als
Resultante zweier miteinander verkoppelter Prozesse vorzustellen. Der eine
Prozeß ist eher langfristiger Natur und zur Analyse in Begriffen
des Neo-Institutionalismus geeignet. In seinem Verlauf wandelt sich der
Wert der "core beliefs", gemessen in Kategorien individuellen Nutzens.[3]
Es liegt nahe, auf das Erklärungsschema "Pfadabhängigkeit" zurückzugreifen,
um sowohl die Beharrungsmomente bestehender Orientierungen als auch die
Bedingungen eines "Wertverlustes" zu skizzieren. Dabei wird unter dem als
"Pfadabhängigkeit" titulierten Sachverhalt verstanden, daß es
die Fortgeltung von Regeln (bzw. Kognitionen) angesichts überlegener
Alternativen zu erklären gilt (also nicht etwas so Triviales wie
"history matters").
Institutional inertia im Sinne komparativer
Ineffizienz wird einerseits als Folge wachsender Erträge des eingeschlagenen
Pfades, andererseits als Wirkung prohibitiv hoher Transaktionskosten des
Pfadwechsels erklärt. Drittens ließe sich ergänzen, mögen
die Transaktionskosten aufgrund genuiner Unsicherheit schlicht unkalkulierbar
sein, d.h. u.U. den Gewinn aus der Installation einer "besseren" Alternative
übersteigen.[4]
Entfällt die Bedingung wachsender oder positiver Erträge des
Status quo und werden die Transaktionskosten einer kognitiven Innovation
- aus welchen Gründen auch immer - als kalulier- und tragbar wahrgenommen,
so mag sich ein Möglichkeitsraum für die Installation neuen Wissens
öffnen. Dann scheint auch die "logic of appropriateness" (March/ Olsen
1989) instruktiver Anschlüsse beraubt.
VII.
Auch nach Öffnung
eines solchen Möglichkeitsraums ist das Gelingen einer kognitiven
Innovation im entscheidungswirksamen Orientierungsrahmen noch nicht gewährleistet.
Es hängt vielmehr vom Ausgang eines zweiten, kurzfristiger verlaufenden
Prozesses ab. Unter der Annahme, daß Strategieentscheidungen an der
Spitze von Organisationen in aller Regel Kollektiventscheidungen sind,
geht es um das Zustandekommen einer "political coalition" (i.S. von Cyert/March
1963) für die Installation neuen Wissens. Dieser Prozeß unterliegt
im Prinzip den gleichen prekären Erfolgsbedingungen wie sie unter
II als Bestandsbedingung von Organisationen überhaupt genannt wurden.
Je tiefergreifend und folgenreicher die Veränderungen zu sein scheinen,
umso notwendiger ist es, sich auf die "nur so mögliche" Wahrung von
Bestandsinteressen und Identitätsmerkmalen der Organisation zu berufen.
Letztere bilden jedoch keinen von allen sanktionsfähigen Gruppen geteilten
Katalog gemeinsamer Überzeugungen. Mitbestimmungsbefugte oder anhörungsberechtigte
Arbeitnehmervertreter halten eher den gegebenen Stellenplan als den shareholder
value für das maßgebliche Identitätsmerkmal, Kleinaktionäre
interpretieren den shareholder value wiederum anders als der Inhaber
einer strategischen Kapitalbeteiligung. Während allzu radikale Innovatoren
Gefahr laufen, sich mit allen Gruppen zugleich anzulegen,[5]
finden gewiefte Taktiker u.U. sehr vielfältige Möglichkeiten,
ein Koalitionsbündnis zu schmieden und - hat dieses erst einmal Selbstbewußtsein
entwickelt - Schritt für Schritt auf riskantere Innovationen zu verpflichten.
Es gibt keinen
Grund anzunehmen, daß dieser Prozeß anders denn als Serie strategischer
Interaktionen zwischen intendiert rationalen Akteurenzu
konzipieren ist. Kluge Reformprotagonisten werden bei der Formulierung
ihrer Innovationsangebote die von ihnen wahrgenommenen Koalitionschancen
und -alternativen in Rechnung stellen, ihre enge Verbundenheit mit (zunächst)
erhaltenswerten Kognitionsbeständen betonen - und gleichwohl das Risiko
laufen, aufgrund unzutreffender Annahmen zu agieren und/oder zu erleben,
daß ihre Absichten und Handlungen fehlinterpretiert werden.
VIII.
Wenngleich sich
gewiss einige allgemeine Merkmale der Koalitionsbildung unter dem Dach
eines gemeinsamen Organisationsbegriffs ausmachen lassen, scheint der Prozess
doch unter die Standardgegenstände der für solche Phänomene
zuständigen heuristischen Theorien zu fallen. D.h. man tut gut daran,
ein anfängliches und nicht per se überwindbares collective
action-Problem (i.S. von Olson 1965) zu vermuten, das auch den Charakter
des Gefangenendilemmas annehmen kann oder nur mittels einer chicken
game-Strategie überwindbar ist. Auf weiteren Stufen des interaktiven
Innovationsprozesses mögen social choice-Probleme (z.B. der
Aggregation divergierender Präferenzordnungen) auftauchen. Ebenso
wenig ausgeschlossen sind Verteilungskonflikte mit Kompensationschancen
(i.S. des Kaldor-Optimums) oder unter der strikteren Bedingung des Pareto-Optimums
(Scharpf 1991).
Die Möglichkeiten
der Interaktion beider Prozesse sind vielfältig und zudem von idiosynkratischen
Variablen der beteiligten Personen abhängig. Schon die vorliegenden
Anwendungen der Rational-Choice-Theoreme widersetzen sich ambitionierten
Generalisierungsansprüchen. Muß womöglich bei der Rekonstruktion
konkreter Pfade der Überwindung von collective action- und
social
choice-Problemen auf "kognitive" Variablen zurückgegriffen werden,
wird eine Pandorabüchse theoretisch unkontrollierbarer Varianz aufgemacht.
Denn Kognitionswandel und -innovation lassen sich weder auf individueller
noch auf kollektiver Ebene problemlos auf ein Set von "Gesetzmäßigkeiten"
beziehen. An diesem Punkt gelangt die Analyse von OL-Prozessen an eine
Grenze, jenseits derer nur noch singuläre Fallgeschichten, aber keine
verallgemeinerbaren Erkenntnisse produzierbar sind.
IX.
Die vorstehenden
Thesen sind tentativer Natur und als Diskussionsanregung gedacht. Will
man sie dennoch auf eine klar umrissene Quintessenz reduzieren, so bieten
sich dafür ein inhaltlicher und ein methodischer Aspekt an.
Der inhaltliche
Aspekt lautet wie folgt: Es lohnt sich, mit einem Untersuchungsdesign zu
arbeiten, das zwischen generellen systematisierbaren Momenten des OL-Prozesses
einerseits und idiosykratischen (unsystematisch variierenden) Momenten
andererseits differenziert. Da sich für die erstgenannten Momente
alternative falsifizierbare Hypothesen formulieren lassen, besteht gute
Aussicht, die in den zuletzt genannten Momenten versteckte unerklärbare
Restvarianz gering zu halten.
Der methodische
Aspekt reflektiert die in den Thesen zum Ausdruck gekommene Wahl theoretischer
Referenzen. Er lautet: Eine handlungsanalytische Rekonstruktion von OL-Prozessen
ist auf exakt dasselbe Theorieangebot verwiesen, das sich auch bei anderen
Gegenständen der Handlungsanalyse bewährt hat, d.h. Neo-Institutionalismus
und Rational Choice.
– – –
Literatur
Argyris, Chris, 1976: Single-Loop and Double-Loop Models in Research on Decision Making. Administrative Science Quarterly 21, 363-375.
Arthur, W. Brian, 1989: Competing Technologies, Increasing Returns, and Lock-in by Historical Events. Economic Journal 99, 116-131.
Cyert, Richard M./ March, James G., 1963: A Behavioral Theory of the Firm. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall.
David, P.A., 1985: Clio and the Economics of QUERTY. American Economic Review 75 (2), 332-337.
Dunbar, Roger L.M./ Dutton, John M./ Torbert, William R., 1982: Crossing mother. Ideological constraints on organizational improvements. Journal of Management Studies 19, 91-108.
March, James G./ Olsen, Johan P., 1989: Rediscovering Institutions. The Organizational Basis of Politics. New York: Free Press.
North, Douglass C., 1991: Institutions, Institutional Change and Economic Performance. Cambridge u.a.: Cambridge University Press.
Olson, Mancur, 1965: The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Przeworski, Adam/ Teune, Henry, 1970: The Logic of Comparative Social Inquiry. New York: Wiley-Interscience.
Scharpf,
Fritz W., 1991: Koordination durch Verhandlungssysteme: Analytische Konzepte
und institutionelle Lösungen am Beispiel der Zusammenarbeit zwischen
zwei Bundesländern. MPIFG Discussion Paper 91/4. Max-Planck-Institut
für Gesellschaftsforschung, Köln.
Wiesenthal,
Helmut, 1995: Konventionelles und unkonventionelles Organisationslernen:
Literaturreport und Ergänzungsvorschlag. Zeitschrift für Soziologie
24 (2), 137-155.
© Helmut Wiesenthal 2000.
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